Timo Luks: Schiffbrüchige des Lebens. Polizeidiener und ihr Publikum im neunzehnten Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 98), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 342 S., ISBN 978-3-412-51492-1, EUR 50,00
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Schiffbrüchige des Lebens? Man denkt nicht, dass es sich dabei um Vertreter der Staatsgewalt, um Polizisten oder besser zeitgenössisch um "Polizeidiener" handelt. Polizeidiener waren zuallererst "Diener", untergeordnete Dienstleute, die wie alle Dienstleute im 19. Jahrhundert in prekären Verhältnissen lebten. Damit ist das Thema der Habilitationsschrift von Timo Luks (Universität Gießen) umrissen: Nachzuzeichnen in welch - fragwürdigen - Umständen Polizeidiener lebten. Luks beschreibt, wie sich ihre Arbeit gestaltete, ohne eigens dazu ausgebildet worden zu sein. Daher waren Polizeidiener oft genug überfordert, auch weil sie zuständig für alles und jedes waren ohne klare Befugnisse und Dienstanweisungen. Sie erfuhren wenig Anerkennung in der Gesellschaft, nicht einmal vom Magistrat der Stadt, dessen Diener sie zuallererst waren. Polizeidiener entfremdeten sich ihren Herkunftsmilieus, weil der Obrigkeit Vertraulichkeiten zwischen ihnen und den "Polizierten" suspekt waren, die doch so oft dem gleichen sozialen prekären Milieu entstammten und zu denen es nicht selten persönliche Querverbindungen gab, die den Dienstpflichten entgegen standen. Was bewog Polizeidiener überhaupt dazu, diese auf längere Sicht einsam machende Tätigkeit anzustreben, die entwürdigende Seiten hatte und die aus ihnen oft genug solche Faktota gemacht hat, wie sie ironisierend biedermeierlich auf dem gut ausgewählten, programmatisch zu verstehenden Umschlagbild "Die Scharwache" von Carl Spitzweg zu sehen sind? Das alles wird in die Einzelheiten gehend dargestellt und unterfüttert mit einer Fülle von lebendigen Quellen.
Das ist die eine Seite der Habilitationsschrift, die auch Geschichte(n) "erzählen" will. Die andere Seite ist die wissenschaftliche: Es geht um Alltagsgeschichte, Sozialgeschichte, auch um Mikrogeschichte. Die Arbeit orientiert sich in einem weiten Sinn an den methodischen Grundlagen der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, wie sie vornehmlich in Frankreich die Annales-Schule entwickelte und mit deren Vertretern sich Luks - vor allem im sehr umfänglichen Anmerkungsapparat - eingehend auseinandersetzt. Es ist dieser weit gespannte Horizont, der die Arbeit von Luks auszeichnet und der vieles umfasst (z. B. auch die Ausführungen zur Polizei in Hegels Rechtsphilosophie - die übrigens kennerhaft in dem Kapitel "Gehässigkeit, Pedanterie und Hegel" analysiert werden.)
In dem Buch geht es nicht um den naheliegenden Zusammenhang zwischen Polizeibehörden und Staatsgewalt. Dieser ist schon Thema einer Fülle von alten und neuen Studien über die Ausbildung moderner Staatlichkeit gewesen. Timo Luks will vielmehr konkret "aufzeigen, dass und wie die Einbettung in und Abgrenzung von hochgradig fluiden sozialen Zusammenhängen und heterogenen Kollektiven [...] den Polizeidienst maßgeblich prägten. Im Aufeinandertreffen von Polizei und Publikum begegneten sich im neunzehnten Jahrhundert eben auf beiden Seiten Handwerker, Schulmeister, Comptoiristen, Copisten, Lakaien, Jäger, Musikanten, Kellner und Hausknechte, ja sogar bestrafte Verbrecher" (16 f.) Und genau dieses Anliegen, "aufzeigen, dass und wie die Einbettung in und Abgrenzung [...] von sozialen Zusammenhängen den Polizeidienst maßgeblich prägten" ist das Alleinstellungsmerkmal dieser Habilitationsschrift.
Und so erfahren wir vieles über so unterschiedliche Themen wie: "Wer Polizeidiener werden will", "Wer es geschafft hat", "Wie es bezahlt wird", "Wer sich einmischt", "Der Polizeidiener als Faktotum und das 'freie Ermessen'", "Polizeiwissenschaften 1850", "'Bequeme Sitzämter' und 'handfeste Executionen'", "Männer und ihre Körper", "'Die verschiedenen Classen des Publikums'", "Polizeidienliche Verhaltenslehre um 1900" (Alles Überschriften der Hauptkapitel).
Das Erzählerische in dieser Habilitationsschrift kommt dann in Unterkapiteln zur Geltung mit Überschriften wie "Des Polizeidieners neue Kleider" (Der angehende Polizeidiener musste seine Uniform selber bezahlen und sich von seinen vormaligen Kumpeln Geld ausleihen), "'Gichtarische Leiden und noch andere Krankheits-Umstände'", "Rückenhiebe am blauen Montag". Ein jeder Leser wird neugierig.
Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal dieser Habilitationsschrift ist der völlig unübliche "Schluss". Statt einer Zusammenfassung, wissenschaftlicher Einordnung, weiter gehenden Reflexionen und dergleichen mehr finden wir eine fiktive Erzählung mit idealtypischem Anspruch, von Timo Luks selber verfasst: Der Lebensgang eines in prekären Verhältnissen lebenden Schneidergesellen, der sich durch den Zwang der Umstände veranlasst sieht, seine "Ehre" als Handwerksgeselle aufzugeben und sich um eine schlecht bezahlte, aber ein regelmäßiges Einkommen garantierende Polizeidienerstelle zu bewerben, der dann seine vormaligen sozialen Kontakte zunehmend verliert, sich der einen oder anderen Schikane der vorgesetzten Stellen ausgesetzt sieht, dem der Schreibdienst in der Stube überhaupt nicht behagt, immerhin trotz widriger Begleitumstände und vielfältigen Irritationen eine kleine Karriere bis zum "Rottmeister" macht, alt und gebrechlich wird und froh ist, die gar nicht selbstverständliche Gnade der Zuteilwerdung einer Pension zu erfahren, deren Höhe jedoch so ist, dass er in ähnlich prekären Verhältnissen im Alter leben muss, wie er sie als junger Mann hatte.
Fazit: Eine im weiten Sinn an der Annales-Schule orientierte Arbeit über das alte Thema "Polizei", allerdings nicht fokussiert auf den Prozess der Durchsetzung staatlicher Gewalt, sondern mit dem neuen kollektiv-biographischen Ansatz, die prekären Lebensumstände und das soziale Milieus des kleinen Polizeidieners sowohl wissenschaftlich zu beschreiben als auch seine Geschichte(n) zu erzählen.
Diese Koppelung von Wissenschaft und Geschichtserzählung ist bemerkenswert. Dies kann man als einen Versuch von Timo Luks ansehen, das uralte Genre Geschichtsschreibung als literarische Gattung wieder zu beleben. Man kann aber auch Bezüge zum Geschichtsdidaktiker Hans Ebeling herstellen, für den die Geschichtserzählung das wirksamste Mittel ist, Geschichte zu vermitteln und der seit der didaktischen Wende in den 70er Jahren Zeiten doch so umstritten ist.
Nicht jeder reine Fachwissenschaftler wird den Schluss schätzen - aber jeder Leser.
Manfred Hanisch