Ariane Wessel: Ökonomischer Wandel als Aufstiegschance. Jüdische Getreidehändler an der Berliner Produktenbörse 1860-1914 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 53), Göttingen: Wallstein 2020, 296 S., ISBN 978-3-8353-3613-1, EUR 32,00
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90% der Getreidegroßhändler an der Berliner Produktenbörse waren jüdischen Glaubens. Dieser hohe Prozentsatz war bislang nicht bekannt. Wie kann man dies erklären? Das ist eine Leitfrage des Buches. Die Antworten sind vielfältig. Aber alle zusammen erklären sie den überdurchschnittlich hohen Anteil jüdischer Glaubensangehöriger. Da war einmal die traditionelle Verankerung von "Kornjuden" im Getreidehandel auf dem Land. Es bestand also eine traditionelle Affinität zu diesem Gewerbe.
In der immer größer werdenden Stadt Berlin wollten die jüdischen Einwanderer wie alle anderen Einwanderer ihr Glück machen und da hatten gerade Migranten besondere Chancen. Denn den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft standen die traditionellen Erwerbszweige zur Verfügung, zu denen allerdings Migranten nur erschwert Zugang hatten. Aber da waren noch die neu hinzugekommenen Nischensparten, die sich am Anfang immer dadurch auszeichnen, dass die Erfolgsperspektiven unsicher sind und ein Engagement dort oft einen höheren Arbeitseinsatz erfordert, den Minderheiten gezwungen sind, auf sich zu nehmen mangels anderer Möglichkeiten. Darüber hinaus sind noch das soziale, das kulturelle und das mentale Kapital sowie oft vorhandene Grundhaltungen in der jüdischen Gemeinschaft, wie z.B. die Bereitschaft zu hohem persönlichen Arbeitseinsatz und hohem finanziellen Risiko, anzuführen. Hinzu kommt das Netzwerk zwischen jüdischen Glaubensangehörigen. Man half einander mit Kenntnissen, Beziehungen und Kredit.
Das alles sind Aspekte, welche für die Angehörigen jüdischen Glaubens als Angehörige einer Minderheit galten, wobei diese Aspekte gar nicht spezifisch für die jüdische Minderheit sind, sondern häufig in wechselnden Kombinationen für Angehörige verschiedenster Minderheiten gelten (z.B. auch für Auslandschinesen). Alle diese Erklärungsansätze werden von Ariane Wessel nicht neu entwickelt, sondern nur für die jüdischen Getreidehändler Berlins übernommen, nachdem die vorhandenen Erklärungsansätze kursorisch dargestellt wurden. Dabei lehnt Wessel sich stark an die Migrations- und Minderheitenforschungen im Umkreis von Roger Waldinger an.
Wichtig sind zudem die Besonderheiten des Getreidehandels. Er war immer schon bedeutsam, um die Versorgung der Bevölkerung sicher zu stellen. Das erläutert Ariane Wessel, indem sie beim Getreidehandel des antiken Athens anfängt und ihn über die gesamte Antike und darüber hinaus kursorisch darstellt. Dies ist nur ein Beispiel für immer wieder vorkommende weit ausholende Einbettungen. Für den Aufstieg der Getreidehändler in Berlin sind Zeitumstände auch maßgeblich verantwortlich. Der Zeitraum von 1860-1914 war eine Zeit des alle Bereiche der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft umfassenden Wandels. Und Zeiten des Umbruchs sind immer Zeiten neuer Chancen. Nicht zuletzt ermöglichte gerade die Boom-Stadt Berlin solch ungewohnte Aufstiege. Berlin war um 1700 noch eine beschauliche und sehr übersichtliche Residenzstadt eines nicht sonderlich bedeutenden Landes, das im 18. Jahrhundert zu einer europäischen Großmacht aufstieg. Nach der Reichsgründung wurde Berlin politischer und auch ein wirtschaftlicher Mittelpunkt Deutschlands und schickte sich an, eine Weltmetropole zu werden. Auch dies wird in einer vielleicht nicht notwendigen Breite dargestellt.
Das alles zusammen waren nach Wessel die wichtigsten Erklärungsansätze für den hohen Anteil von Menschen jüdischen Glaubens im boomenden Getreidehandel der boomenden Metropole Berlin in den Zeiten eines grundlegenden Wandels. Rund 40% des Buches beschäftigen sich mit der Ausbreitung dieser Erklärungsansätze.
Die anderen Teile sind quellenbasierte Untersuchungen zum jüdisch dominierten Getreidehandel in Berlin und dessen Bedeutung in der Antisemitismus-Diskussion im Kaiserreich.
Hier liefert Ariane Wessels Dissertation (Humboldt-Universität Berlin, 2018) neue Erkenntnisse. Der Getreidehandel in Berlin war bislang in der Forschung allenfalls kursorisch gestreift und noch nie kollektiv-biografisch untersucht worden. Die vorher theoretischen Erklärungsansätze finden eine überraschend konkrete Bestätigung. Überdies war bislang der hohe Anteil von jüdischen Glaubensangehörigen im Getreidegroßhandel an der Berliner Produktenbörse nicht bekannt. Dieser hohe Anteil hatte politische Implikationen. Getreide ist lebenswichtig und internationaler Terminhandel an der Börse oftmals hochgradig spekulativ. Der Getreidehandel in den Händen jüdischer Börsianer! Und genau das trifft nach den Untersuchungen von Wessel zu. Die Getreidegroßhändler handelten auch international mit billigem Getreide aus dem Ausland. Die neuen Verkehrsmöglichkeiten ermöglichten ihnen dies. Billiges Getreide durch Freihandel in Kombination mit neuen Verkehrsmitteln und weit gespannten Börsentermingeschäften - alles erst möglich in diesen modernen Zeiten, wo alles sich gewandelt hatte - ruinierten indes die wirtschaftliche Grundlage der ostelbischen Großgrundbesitzer. Es ist d a s geradezu ideale Szenario für Antisemitismus jeder Art und hier im direkten wirtschaftlichen Interesse staatstragender, alter Eliten, denen die ganze Zeit mit all ihren modernen Veränderungen nicht passt. Sie sind eine treibende Kraft hinter Schutzzollgesetzen und dem Börsengesetz von 1896. Beides traf und sollte den in jüdischen Händen sich befindenden Getreidegroßhandel an der Börse treffen. Die Vorgänge und die Diskussionen zeichnet Wessel genauestens nach. Dies ist der wichtigste Ertrag der Arbeit. Es ließen sich lange Linien von den frühneuzeitlichen "Kornjuden" zu den Getreidegroßhändlern an der Börse im Kaiserreich bis hin zu den Nahrungsmittelschiebern im Ersten Weltkrieg ziehen. Diese Linien als eine Aufgabe künftiger Forschungen deutet Ariane Wessel zwar an, verfolgt sie aber nicht weiter.
Nachdem hinreichend bekannt ist, dass die traditionelle Verankerung von Juden im Bankgeschäft geradezu ideal war, um antisemitische Abwehrreaktionen gegen die modernen Zeiten bei jenen hervorzurufen, die von den Wandlungsprozessen negativ betroffen waren, gerät mit der Arbeit ein zweiter Bereich in den Fokus: Der Getreidegroßhandel an der Berliner Börse. Er ist von ähnlich elementarer Bedeutung für die Genese antisemitischer Vorurteile und berührt direkt die Interessen ostelbischer Gutsbesitzer.
Fazit: Mit der erstmaligen kollektiv-biografischen Aufarbeitung des weitgehend in jüdischen Händen sich befindenden Getreidegroßhandels Berlins wird die stets sorgfältig belegte Dissertation von Ariane Wessel überaus wichtig für jeden, der sich künftig mit Antisemitismus im Kaiserreich beschäftigt. Die Arbeit ist zwar um die Erklärungsansätze zentriert, warum 90 % der Getreidegroßhändler Berlins jüdischen Glaubens waren, aber ihr gelingt der Nachweis des direkten wirtschaftlichen Interesses hinter der antisemitischen Agitation von Vertretern agrarischer Interessen im Kaiserreich. Gerade dieses Ergebnis lässt aufhorchen.
Manfred Hanisch