Sarah Lemmen: Tschechen auf Reisen. Repräsentationen der außereuropäischen Welt und nationale Identität in Ostmitteleuropa 1890-1938, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 358 S., ISBN 978-3-412-50798-5, EUR 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Fragen der Repräsentation und Identität nehmen in den postkolonialen Studien einen wichtigen Platz ein. Während sich viele dieser Arbeiten auf das Verhältnis zwischen den europäischen Kolonialmächten und den außereuropäischen Kolonien konzentrieren, nimmt Sarah Lemmen in ihrer 2015 an der Universität Wien eingereichten Dissertation Tschechen auf Reisen die Betrachtung der außereuropäischen Welt durch die Brille einer vergleichsweise kleinen ostmitteleuropäischen, nicht-kolonialen Nation in den Blick. Anhand von 91 tschechischen Reiseberichten, die in den Jahren 1890-1938 erschienen sind, beleuchtet Lemmen die im wechselseitigen Verhältnis zueinander stehenden Fremdbilder der außereuropäischen Welt in der tschechischen Gesellschaft und die Selbstbilder der sich im Prozess der Nations- und Staatsbildung befindlichen tschechischen Nation.
Auf den gelungenen Einstieg, der unter Bezugnahme auf die aktuelle Werbung einer tschechischen Brauerei zum Thema hinführt, folgen einführende Überlegungen zum Forschungsdesign sowie vier inhaltliche Kapitel. Zunächst geht die Autorin auf Debatten und Institutionen ein, die für die tschechische Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Welt zentral waren und die Bedeutung des Themas für einen breiteren gesellschaftlichen Kontext - über die Reiseberichte hinaus - verdeutlichen sollen. Auch wenn Lemmen eine allgemeine Intensivierung der Kontakte sowie verschiedene Motivationen, die der Beschäftigung mit der außereuropäischen Welt zugrunde lagen, durchaus nachweisen kann, überzeugt die These von einem breiten gesellschaftlichen und staatlichen Interesse am Ausbau derartiger Beziehungen weniger. Dies liegt zum einen daran, dass unklar bleibt, auf welche Resonanz eine öffentliche, vom Orientalischen Institut 1931 begründete Vortragsreihe über Absatzmärkte im Orient stieß, die Lemmen als Beispiel für das zunehmende Interesse anführt, oder auch inwiefern die Forderungen einzelner Akteure oder spezialisierter Institute und Vereine nach Stärkung der Beziehungen zu nichteuropäischen Weltregionen aufgegriffen und weiterverfolgt wurden. Das Beispiel des Orientalischen Instituts, das "frühzeitig breite Unterstützung" staatlicher, wirtschaftlicher und universitärer Akteure erhalten habe (69), aber dessen Gründung sich zunächst erheblich verzögert habe und dessen Finanzierung kurz nach der Gründung radikal gekürzt worden sei, kann kaum als Beleg für die gesellschaftliche Relevanz dienen. Zum anderen wäre an dieser Stelle ein Vergleich zu anderen Weltregionen hilfreich gewesen, um den Stellenwert der nicht-europäischen, nicht-westlichen Welt in der tschechischen Gesellschaft zu verdeutlichen.
Das dritte Kapitel nutzt quantitative Methoden und den gruppenbiografischen Ansatz, um die Autoren der ausgewerteten Reiseberichte vorzustellen. Erwartungsgemäß handelte es sich um eine weitgehend homogene Gruppe - bürgerlich geprägt, akademisch gebildet, beruflich schreibend tätig und eindeutig männlich dominiert. Zwei Tabellen verdeutlichen, dass die Reisenden, unter denen viele Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten waren, Länder in Nordafrika und Nahost sowie China, Indien und Japan am häufigsten bereisten. Die Aussagen zu den Reisenden, ihren Hintergründen, Reisemotiven und Reisezielen dienen als Grundlage für die Auswertung der Reiseberichte in den folgenden zwei Kapiteln, die den Kern der Arbeit bilden. Insbesondere der Verweis darauf, dass die Reisenden, anders als reisende Briten oder Franzosen, nicht im Dienste einer Kolonialmacht unterwegs waren, ist für das Verständnis der Ausführungen zu Besonderheiten der tschechischen Wahrnehmung der außereuropäischen Länder wichtig. Der Fokus auf diesen "Reisenden zweiter Klasse", die sowohl "von der luxuriösen ersten Klasse der Kolonialbeamten wie auch von der dritten Klasse der Einheimischen" (294) getrennt gewesen seien, ermöglicht der Autorin, die Unterschiede in der europäischen Wahrnehmung und Repräsentation des Nicht-Westens herauszuarbeiten. So sei auch in den tschechischen Darstellungen die aus der kolonialen Perspektive bekannte Dichotomie zwischen dem zivilisierten Europäer und dem unzivilisierten Einheimischen durchaus präsent. Folglich bringen Passagen, in denen L. die Schilderung der außereuropäischen in Abgrenzung zu europäischen Welten analysiert, nur bedingt neue Erkenntnisse hervor. Umso interessanter sind die Teile, die dem spezifisch tschechischen Blick gewidmet sind. Wie Lemmen zeigen kann, beeinflusste die Selbstwahrnehmung der tschechischen Reisenden, die sich von der kolonialen Elite bewusst abgrenzten, sowohl ihre Reisepraktiken, was eine Verringerung der Distanz zur lokalen Bevölkerung zur Folge gehabt habe, als auch die Darstellungen von außereuropäischen Welten, in denen das dichotomische europäische Narrativ stellenweise von Zwischentönen unterbrochen worden sei. Während die europäische Wahrnehmung damit differenziert wird, unterscheidet die Autorin im Hinblick auf die außereuropäische Welt nicht zwischen den einzelnen Regionen oder Ländern, auch wenn einige Differenzen in der Wahrnehmung kurz angedeutet werden (207).
Schließlich wird im fünften Kapitel das tschechische Selbstbild in den Blick genommen. Auch wenn den Bildern der Anderen stets Selbstbilder zugrunde liegen, ist deren Untersuchung für den Zeitraum, den Lemmen in ihrer Studie betrachtet, von besonderer Relevanz. Das ausgehende 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren nicht nur von Globalisierung, die mit einem Anstieg der Fernreisen einherging, geprägt, sondern auch von Nationsbildung, die durch die Fernreisen wiederum forciert wurde. Dieses Wechselverhältnis arbeitet Lemmen überzeugend heraus und zeigt, wie die Fernreisen einerseits der Selbstvergewisserung und Bestätigung des Nationalen dienten, wenn überall auf der Welt tschechische Spuren - Landsleute, Produkte oder Kenntnisse der tschechischen Sprache - ausfindig gemacht worden seien. Andererseits habe die fehlende Bekanntheit der tschechischen Nation, welche die Reisenden auch über die Zäsur der Staatsgründung 1918 hinweg in aller Welt beobachtet hätten, das nationale Selbstverständnis infrage gestellt. Die Einbettung der Reiseberichte in den Kontext der allgemeinen gesellschaftlichen Debatten über die Nation geht in der Studie jedoch nicht über die Feststellung hinaus, dass die Reiseberichte Teil des Nationaldiskurses gewesen seien. Die Frage, welchen Stellenwert die Reiseberichte in diesem Diskurs einnahmen, oder auch die stets schwer zu beantwortende Frage nach der Rezeption der Reiseberichte werden in der Studie, abgesehen von einem Hinweis auf die Auflagezahlen, nicht diskutiert.
Insgesamt legt Lemmen eine sehr gut lesbare Studie vor, die theoretisch fundiert und klar strukturiert ein bis jetzt wenig beachtetes Thema der ostmitteleuropäischen Geschichte bearbeitet. Die aufgezeigten Schwachstellen betreffen in erster Linie die Aussagekraft der Befunde für die tschechische Gesellschaft, die zwar behauptet wird, aber durch die lediglich kursorische Einbettung in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext nicht belegt werden kann. Dagegen überzeugt das Buch vor allem dort, wo die Spezifika des tschechischen Blicks in den Reiseberichten hervortreten. Dies zeugt von der Fruchtbarkeit der Kategorie "nicht-koloniale Nation", für deren Berücksichtigung in weiteren Studien sich die Autorin ausspricht. Diesem Plädoyer kann man sich - gerade im Kontext der ostmitteleuropäischen Geschichte - nur anschließen.
Darina Volf