Eva Odelman (Hg.): Nicolai de Aquaevilla. Sermones moralissimi. Atque ad populum instruendum utilissimi supra evangelia dominicarum totius anni (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 283), Turnhout: Brepols 2018, LIX + 702 S., ISBN 978-2-503-57567-4, EUR 395,00
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Matthew Doyle: Peter Lombard and His Students, Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 2016
Ian P. Wei: Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University c. 1100-1330, Cambridge: Cambridge University Press 2012
Ian Christopher Levy / Gary Macy / Kristen Van Ausdall (eds.): A Companion to the Eucharist in the Middle Ages, Leiden / Boston: Brill 2011
Wenig ist über Nicolaus de Aquaevilla bekannt: Er lebte Ende des 13. Jahrhunderts in Frankreich und gehörte wohl dem Franziskanerorden an. Etwas mehr weiß man über die von ihm verfassten Werke, zu denen zwei gewichtige Musterpredigtsammlungen von sermones dominicales und sermones de sanctis gehören. Erstere ist Gegenstand einer semi-kritischen Edition, die im Rahmen eines Ars edendi betitelten Forschungsprogramms an der Stockholmer Universität entstand. Ziel dieses Programms ist es, praktikable Methoden für die Edition lateinischer und griechischer Texte des Mittelalters zu entwickeln - Texte, bei denen die Anwendung klassischer, "kritischer" Editionsmethoden bisher zum Scheitern verurteilt war. [1]
Zu ihnen gehört auch die 60 Predigten umfassende Sammlung des Nicolaus de Aquaevilla, deren Entstehung an der Universität Paris als unbestrittenem Zentrum mendikantischer Predigtaktivitäten im 13. Jahrhundert zu verorten ist. Musterpredigten dienten der Anregung bzw. Vorbereitung von Predigern und können sich in sehr unterschiedlichen Formen, Sprachen und Redaktionsstufen präsentieren. In ausgearbeiteter Form ersparten sie Predigern das Verfassen eigener Sermones: Eine einfache Wiedergabe genügte dann. Viele Musterpredigten waren aber wenig mehr als bloße Entwürfe: hier ging es für den Prediger darum, das gedankliche Skelett mit weiteren Materialien, Bibelstellen, vor allem aber Beispielerzählungen, den sogenannten exempla, anzureichern. Musterpredigtsammlungen, nicht nur diejenige des Nicolaus de Aquaevilla, sind noch heute in einer Vielzahl von Handschriften und zahllosen zwischen 1470 und der Reformation entstandenen Druckausgaben überliefert.
Moderne Editionen dieser Quellengattung sind freilich eine rare Spezies. Dies hat mit den enormen editorischen Anforderungen aufgrund dichter und variabler Überlieferung zu tun, handelte es sich doch um Gebrauchstexte, die der ständigen Revision unterlagen. Wie "kritisch" muss nun eine Edition sein, um den Ansprüchen moderner Wissenschaftlichkeit zu genügen? Oder anders formuliert: wieviel Zeit und Mühen müssen investiert werden, um einen diesen Ansprüchen genügenden Text zu generieren? Nikolaus' Predigten sind in nicht weniger als 44 vollständigen mittelalterlichen Handschriften und acht Inkunabeldrucken überliefert (vgl. zu einer knappen Auflistung XVIII-XXI). Sie folgen alle den Vorgaben des sermo modernus, einer Ende des 12. bzw. Anfang des 13. Jahrhunderts entwickelten Predigtform, in der ein Bibelvers (thema) unterschiedlich stark untergliedert (divisio) und entfaltet wird. Nikolaus schreibt auf Latein, doch deuten einige Besonderheiten in der Syntax klar auf einen romanischen Hintergrund hin (facit homini habere spem). Inhaltlich warnen sie wenig überraschend vor den Todsünden und rufen zum Gehorsam gegenüber Gott auf, enthalten aber auch einiges an Sozialkritik, die insbesondere mit Blick auf (hohe) Kleriker formuliert wird. Kritisiert werden ausschweifendes Leben, Nepotismus und Gefallsucht (die sich auch darin manifestieren kann, dass Predigten durch trufas et fabulas attraktiv gemacht werden). Eine Bemerkung in sermo 47 lässt auf die Vertrautheit des Autors mit franziskanischem Sitzungsprocedere schließen. [2]
Der Edition gingen umfangreiche Vorarbeiten voraus, mittels derer versucht wurde, den erfolgversprechendsten editorischen Zugriff auf die Predigtsammlung zu ermitteln. Was von vornherein ausschied, war die Option einer traditionellen kritischen Edition, in der man sich gemeinhin an der Rekonstruktion eines "authentischen" Textes aus der Feder eines individuellen Autors versucht und dabei das elaborierte Methodeninstrumentarium Lachmannscher Prägung zum Einsatz bringt. Erfolgversprechender (weil Zeit- und Personalressourcen sparend) war der Gedanke an eine semi-kritische Edition, bei der diejenige Textversion zu Grunde gelegt wird, die den größten Einfluss entfaltete. Bei solcherart pragmatischem Zugriff geht es nicht darum, exakt die Worte zu rekonstruieren, die der Autor ursprünglich niederschrieb, sondern um die Präsentation einer weitverbreiteten Version, eines zuverlässigen "Vulgata"-Textes mit so wenig Fehlern wie möglich, begleitet von einem reduzierten kritischen Apparat. Die Definition von "semi-kritisch", die der Edition zugrunde liegt, überzeugt: "[...] an edition based on one single, good text witness, supported by information from just a selection of other witnesses available, where those selected are fully collated" (XIV). Antoine Dondaine hätte Freude an diesem Vorgehen gehabt [3], das von David d'Avray als "critical transcription" tituliert wurde. [4] Alles hängt hier also an der Auswahl des "richtigen" Basistextes und der übrigen Textzeugen. Für jeden klassisch ausgebildeten Editor gewöhnungsbedürftig ist die Möglichkeit, für diesen "Basistext" nicht nur auf eine Handschrift, sondern unter Umständen auch auf einen Inkunabeldruck zurückzugreifen. Dies liegt in der Logik der Sache begründet: Inkunabeln überliefern einen (oft, freilich nicht immer) umfangreicheren Text als eine Handschrift, sind leicht(er) zugänglich, repräsentieren vor allem aber eine Textversion, deren weite Verbreitung im Medium des Drucks gesichert war.
Zu Beginn des Projekts erstellte man zunächst zwei Testeditionen ein und derselben Predigt: man wählte dabei sowohl den "klassischen", stemmatischen Zugriff, für den 30 der rund 50 überlieferten Handschriften herangezogen wurden, als auch einen eher pragmatischen, "semi-kritischen" Zugang, bei dem ausgehend von einem Inkunabeldruck und nur noch zehn Handschriften (von denen schließlich nur noch zwei, unterschiedliche Handschriftentraditionen repräsentierend, für den kritischen Apparat ausgewählt wurden) der Text erstellt wurde. Das Ergebnis ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Die Unterschiede zwischen beiden Edition waren marginal. Der einzige Unterschied bestand im zeitlichen Aufwand bei der Erstellung der Edition, der im ersteren Fall unverhältnismäßig hoch war und der Überzeugung Hohn sprach "that the investment of scholarly effort should be in proportion to the intellectual gain" (XV). Dieser semi-kritische Zugriff könnte nun mit einigen guten Argumenten als "nur" halb-wissenschaftlich diskreditiert werden, doch muss dann auch die Frage beantwortet werden, wie lange man noch auf die Zurverfügungstellung philologisch zuverlässiger Gebrauchstexte des (späten) Mittelalters warten möchte. Mit der Verschiebung in eine ferne Zukunft ist der Wissenschaft hier sicherlich nicht gedient.
Vorliegende Edition beruht auf einem in der Universitätsbibliothek von Uppsala verwahrten Inkunabeldruck (Ups. Ink. 35b:19 Fol. Min.), entstanden kurz nach 1477 in Paris. Drei Handschriften wurden damit abgeglichen: Paris, BnF, lat. 15957, geschrieben nicht später als 1288 (und aller Wahrscheinlichkeit nach das Exemplar, das als Vorlage für den Druck diente); Beaune, Bibliothèque municipale 48, geschrieben Ende des 13. Jahrhunderts; London, British Library, Add. 33416, geschrieben 1339-40 (vgl. zu den Handschriften, XXIV-XXVII). Letztere Handschrift enthält einige längere Ergänzungen zu den Predigten 21, 26 und 51, die in einem Appendix gesondert ediert werden (582-596). Der Druck enthält vier Predigten mehr als die Handschriften (sermones XIII, XIIII, LIII, LVII) - Sermones, die sich in ihrem Charakter mit einer Fülle expliziter Frankreich-Bezüge deutlich vom Rest unterscheiden und als Ergänzung einer jeweils vorangehenden Predigt zu verstehen sind. Eine Auflistung der Predigten (XXVII-XXXII) mit Angabe der Nummer, der Druckseite, des jeweiligen Sonntags, des Themas und des Incipits und Explicits vermittelt einen ersten Eindruck vom Reichtum der behandelten (theologischen) Sachverhalte.
Weshalb nun wurde in vorliegendem Fall dem Inkunabeldruck der Vorzug gegenüber derjenigen Handschrift gegeben, die diesem Druck doch wohl zugrunde lag? Ursächlich dafür war der deutlich fehlerreduzierte und "more advanced stage of redaction of the texts" (XXXIII; 125 Fehler in der Handschrift, 77 im Druck) - Texte, die qua Druck (und somit im Status eines textus receptus) ein höheres Maß an Einfluss als eine einzige Handschrift entfalten konnten. Abgesehen von Fällen, in denen alle drei handschriftlich überlieferten Textzeugen eine andere Lesart als der Druck bieten, wurde dem Inkunabeldruck gefolgt.
Ein Blick in die Edition zeigt den Erfolg des Bemühens, den kritischen Apparat nicht ausufern zu lassen, sondern auf das absolut Notwendige zu beschränken. Dies heißt dann aber auch, dass dieser Apparat nicht immer und überall die vollständigen Informationen über unterschiedliche Lesarten in den Handschriften bietet. Dies scheint freilich vor dem Hintergrund verschmerzbar, dass Varianten und Fehler, die die charakteristische Ausprägung der jeweiligen Handschrift abbilden, selbstverständlich verzeichnet wurden. Der Quellenapparat listet diejenigen patristischen und mittelalterlichen Quellen auf, auf die im Text explizit verwiesen wird (es sind dies vor allem Passagen aus den Predigten Augustins, den Moralia in Iob und den Homiliae in evangelia Gregors des Großen und Pseudo-Bernhards Meditationes piissimae). Die Orthografie folgt grundsätzlich derjenigen der Inkunabel.
Die inhaltliche Erschließung der edierten Texte gehört sicherlich nicht zu den Kernaufgaben des Editors. Dies ist dem Rezensenten bewusst. Und doch sei die Bemerkung erlaubt, dass man sich als Leser über eine knappe Charakterisierung der Predigten Nikolaus' ebenso gefreut hätte wie über eine kurze Inhaltsangabe zu Beginn einer jeden Predigt. Dies mag in kritischen Editionen nicht üblich sein: Doch wenn schon - durchaus erfolgreich - semi-kritisch ediert wird, sollte auch dieses Abweichen vom üblichen Procedere keine größeren Entrüstungsstürme mehr hervorrufen. Im Gegenteil: Die avisierte Rezipientengruppe dürfte solcherart Handreichungen, die den Einstieg in die sermoniale Welt eines Pariser Theologen im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert erleichtern, nur begrüßen.
Eva Odelman hat mit der vorliegenden Predigtedition glanzvoll unter Beweis gestellt, dass sich auch umfangreiche, in einer großen Zahl von Handschriften überlieferte Predigtcorpora in einem überschaubaren Zeitrahmen edieren lassen. Zu wünschen bleibt, dass nun auch weitere dieser einflussreichen (spät-)mittelalterlichen Gebrauchstexte ihren Editor finden mögen.
Anmerkungen:
[1] Ars Edendi, unter: Stockholm University, URL: https://www.klassiska.su.se/english/research/research-projects/ars-edendi-1.15460.
[2] sermo 47, 458, Z. 97/98: Per hoc significatur superbia, quia semper commouet lites et discordias in capitulis et in aliis locis inter homines.
[3] Antoine Dondaine: Variantes de l'apparat critique dans les éditions de textes latins médiévaux, in: Bulletin de la Société internationale pour l'étude de la philosophie médiévale 4 (1962), 82-100, hier: 84, 91-95.
[4] David L. d'Avray: Death and the Prince. Memorial Preaching before 1350, Oxford 1994, 9-10.
Ralf Lützelschwab