Cary J. Nederman: The Bonds of Humanity. Ciceros Legacies in European Social and Political Thought, ca. 1100-ca. 1550, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2020, XVI + 220 S., ISBN 978-0-271-08500-5, USD 79,95
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Nederman legt in gewisser Hinsicht ein Kondensat von dreißig Jahren Tätigkeit vor (xiii); er will nichts weniger als die Rolle des Aristoteles als Zentralautor für Sozial- und Politiktheorie im Mittelalter zu Gunsten Ciceros relativieren (2). Methodisch geht es ihm nicht darum, eine präzise Identifikation der Quellen der mittelalterlichen Autoren vorzunehmen, sondern ihre Gedanken als ciceronianisch beeinflusst nachzuweisen (besonders 5-7, 11). Dabei versucht er nicht nachzuweisen, dass die mittelalterlichen Autoren 'echte' Ciceronianer waren, sondern wie sie Cicero für sich nutzbar gemacht haben - und sei es mit völlig gegensätzlichen Ergebnissen. Dies wird insbesondere ab Kapitel 5 bemerkbar, wenn Verfechter und Gegner des Imperiums gleichermaßen auf 'Tullius' rekurrieren, so dass man an Alanus ab Insulis denken mag: Die Autorität hat eine wächserne Nase. [1]
In den acht Kapiteln werden zahlreiche Autoren aufgegriffen, die nicht im Inhaltsverzeichnis erwähnt werden. Im ersten dem Mittelalter gewidmeten Kapitel sind es Thierry von Chartres (41-44), Rufinus (44-46), Otto von Freising (46-48), Aelred von Rievaulx (48-55) und das Moralium dogma philosophorum (55-60, zitiert als Moralium im Singular). Nachdem das zweite Mittelalter-Kapitel (62-84) gänzlich Johannes von Salisbury gewidmet ist, werden im Kapitel zum 13. Jahrhundert und universitären Schriftstellern (85-107) Heinrich von Ghent (87-91), Ptolemäus von Lucca (91-96), Johannes von Paris (96-101) und Jakob von Viterbo (101-106) behandelt. Das folgende Kapitel ist wieder einem einzigen Autor gewidmet: Marsilius von Padua (108-122). Wenn Cicero Französisch spricht, so sind es Brunetto Latini (124-129), Nicole Oresme (129-137) und Christine de Pisan (137-142), die dem republikanischen Autor ihre volkssprachliche Stimme leihen. Für kaiserliche Apologeten führt Nederman Engelbert von Admont (146-150), Aeneas Silvius Piccolomini (150-161) und Nikolaus von Kues (161-168) ins Feld. Das letzte argumentative Kapitel ist Bartolomé de Las Casas gewidmet (170-184). Ausdrücklich von der Untersuchung ausgeschlossen werden der Florentiner Bürgerhumanismus im Sinne Hans Barons (5) und Thomas von Aquin (86). Ein Literaturverzeichnis (201-214), schlanke Indices erwähnter Werke, der Personennamen und Gegenstände beschließen den Band.
Die Destillation der ciceronianischen Zentralgedanken aus dem Kontext der Sozial- und Politiktheorie erfolgt auf Grundlage der heute bekannten ciceronianischen Texte (xvii); eine knappe Darlegung der Überlieferungslage im Mittelalter erfolgt nicht. [2] Als Basiskonzepte Ciceros identifiziert Nederman den Zusammenhang von Verstand, Sprache und Gleichheit (14-17), Verstand und Tugend (17-23), die Rolle der Religion (23-26), den Übergang von (archaischer Ur-) Gesellschaft zu Herrschaft (26-28), den Zusammenhang von Staatskunst und republikanischen Institutionen (28-31), den Patriotismus (31-35) und die Freundschaft (35-37). Von diesen Konzepten werden nicht alle bei jedem Autor wiederzufinden sein und kein Autor greift alle auf. Johannes von Salisbury verarbeitet jedoch ziemlich viele davon.
Einer der spektakulärsten Teile des Schaffens Johannes' von Salisbury ist die 'Tyrannenmordlehre', die Nederman aufgreifen musste (71-74), da Johannes auch hier vielfältig aus dem ciceronianischen Werk schöpft. Auf diesen Seiten legt Nederman dar, dass Johannes ein uneingeschränkter Apologet des Tyrannenmordes gewesen sei. Dass Nederman zu diesem eindeutigen Ergebnis kommt, wird dadurch möglich, dass für ihn seit 1988 die Diskussion beendet ist [3]; die - in jüngerer Vergangenheit durchaus noch geführte - Diskussion um die widersprüchlichen Stellen des Policraticus stellt er nicht nochmals vor. [4]
Im letzten Teilkapitel zu Johannes von Salisbury (80-83) geht Nederman auf Grundlage von Johannes' ciceronianischer Freundschaftslehre der Frage nach, wie es Johannes mit seinen eigenen Lehren gehalten habe. Salopp formuliert: ob Johannes nach eigenen Maßstäben ein guter Freund gewesen sei. Die Grundlage dafür sind seine Briefe. Zwar gibt der Editor der Briefe keinen Hinweis darauf, dass Johannes seine Briefe redigiert haben könnte, aber m. E. sicherte es das eigene Ergebnis ab, diese Frage zumindest kurz aufzugreifen. [5] Wenn Johannes nämlich seine Briefe redigiert hätte, wäre er weniger als guter Freund nach seinen eigenen Maßstäben erwiesen, sondern vielmehr als eine Person, der es wichtig war, so zu erscheinen. Parallelüberlieferung wird nicht diskutiert; geeignet wären Briefsammlungen von Personen, die mit oder über Johannes korrespondiert haben, wie etwa Peter von Celle, Thomas Becket oder Gilbert Foliot. Das führte sicherlich von Cicero fort, aber wenn schon die reale Umsetzung ciceronianischer Ideale zur Freundschaft thematisiert wird, wäre der Blick über Johannes hinaus sicherlich nicht vergebens.
Wie alle Autoren werden auch die im Kapitel zum ciceronianischen Imperialismus kurz mit Biographie und Gesamtwerk vorgestellt. Bei Aeneas Silvius Piccolomini mit seinen verschiedenen Karriereschritten hat das eine besondere Bedeutung. Seine behandelten Traktate Pentalogus de rebus ecclesiae et imperii von 1443 und De ortu et auctoritate imperii Romani von 1446 werden indes nicht mit der bis heute hin und wieder zu findenden Charakterisierung Piccolominis als Opportunist, der gleichsam Bewerbungsschriften verfasste, konfrontiert. [6] Trotz seiner Herkunft aus dem kommunalen Italien findet man Piccolomini als Verfechter der kaiserlich-imperialen Sache. Dass Aeneas gerade in De ortu et auctoritate imperii Romani regelmäßig res publica und die zugehörige Terminologie verwendet, erweist ihn für Nederman als abhängig von Cicero (160).
Wenn Christine de Pisan die Entstehung komplexer, hierarchischer Gesellschaften vor dem Hintergrund einer angenommenen chaotischen, anarchischen, klischeehaft paläolithischen Lebensweise beschreibt, muss für Nederman auch hier die ciceronianische Annahme dazu Pate gestanden haben. Sicherlich, beide sind sehr ähnlich, aber ist es nicht vorstellbar, dass der Gedanke so greifbar ist, dass man ihn unabhängig von Tullius haben könnte? Schließlich fehlt bei Christine der Verweis auf die Eloquenz als Werkzeug, das nach Cicero diese Transformation ermöglichte. Gerechtigkeit und Vernunft hat sie als Grundlagen der menschlichen Gesellschaft angenommen, also sei es ciceronianisch (139). Nederman stellt dazu fest: "Christine's language and account follow Cicero closely, even in the absence of attribution." Man muss Nederman hier vertrauen, dass er das gründlich verglichen hat; seinen Lösungsweg legt er nicht dar.
Man erfährt, dass die behandelten Autoren Cicero benutzt haben; es erfolgt aber keine Abwägung quantitativer oder qualitativer Natur. Punktuell räumt Nederman dies in der Zusammenfassung ein (187). M. E. ist die exemplarische Herangehensweise zuweilen etwas sehr weit getrieben; ich hätte eine umfangreichere Abwägung aller unterschiedlichen Autoritäten, die von den behandelten Autoren herangezogen wurden, vorgezogen - aber das äußert jemand, der in einer anderen Tradition als Nederman sozialisiert wurde und bei weitem nicht dessen Meriten erworben hat. Vor demselben Hintergrund sind weitere Bedenken zu sehen: Das betrifft den Umgang mit lateinischen Junkturen, die recht sparsamen Endnoten und die häufiger von deutschen Rezensenten angemerkte Fokussierung auf anglophone, genauer US-amerikanische Literatur. [7] Was freilich bemerkenswert bleibt, ist der Umstand, dass manche mittelalterliche Autoren spätantike Vermittler 're-ciceronianisieren', wie es Nederman für Ptolemäus von Lucca vorführt (93-94).
Liest man den Eintrag zu Cicero in Mittelalter und Renaissance im Lexikon des Mittelalters, fällt es nicht immer leicht, der Euphorie, Cicero gefunden zu haben, zu folgen. [8] Laut dem Klappentext ist dies ein "highly original and compelling, [...] paradigm-shifting book". Dies mag sich so verhalten. Eine interessante Herausforderung, an der man sich abarbeiten muss, ist es allemal.
Anmerkungen:
[1] Alanus ab insulis, De fide catholica contra haereticos I, c. 30, in: Migne, Patrologia Latina 210, col. 333: Sed quia auctoritas cereum habet nasum, id est in diversum potest flecti sensum ...
[2] Lexikon des Mittelalters II, Sp. 2063-2077, bes. A.III von W. Rüegg, Sp. 2065-2067, und Sp. 2075-2077 von P. G. Schmidt zur Textgeschichte. Den dort als besonders wichtig vermerkten Katalog der Cicero-Werke im Mittelalter von Birger Munk Olsen betrachtete Nederman als für seine Sache nicht dienlich.
[3] Cary J. Nederman: The Duty to Kill: John of Salisbury's Theory of Tyrannicide, in: The Review of Politics 50 (1988) 365-389.
[4] Verwiesen sei hier nur auf Johannes von Salisbury, Policraticus. Eine Textauswahl, lateinisch-deutsch, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Stefan Seit (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, 14), Freiburg im Breisgau u. a. 2008, Kapitel 2.4, mit einer Einführung in die entsprechenden Stellen des Policraticus und einer Darstellung der Forschungsdiskussion.
[5] Die verschachtelte Überlieferung der Brieftexte des Johannes spricht immerhin dagegen, dass er größere Eingriffe vorgenommen hat. Die zweite Sammlung seiner Briefe hat indes sein Mitarbeiter Alan besorgt. Vgl. The Letters of John of Salisbury II: The Later Letters (1163-1180), ed. W. J. Millor - C. N. L. Brooke, Oxford 1979, bes. liii-liv, lviii-lxiii. Es ist inzwischen bekannt, dass es mittelalterlichen Autoren durchaus nicht fremd war, ihr literarisches Œuvre zu optimieren. Aeneas Silvius Piccolomini mag hier ein besonders deutliches Beispiel sein. In Ermangelung der veröffentlichten Habilitation von Johannes Helmrath sei verwiesen auf: Tobias Daniels: Diplomatie, politische Rede und juristische Praxis im 15. Jahrhundert, Göttingen 2013, 408, mit einem Verweis auf die Optimierung der Reden; Paul Weinig: Aeneam suscipite, Pium recipite. Aeneas Silvius Piccolomini, Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts, Wiesbaden 1998.
[6] Vgl. Volker Reinhardt: Pius II. Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann, München 2013.
[7] Wenn Nederman feststellt, dass Joseph Canning der einzige sei, der sich substanziell zu Jakob von Viterbo als Theoretiker sozialer und politischer Dinge geäußert habe (101), bin ich auf Grundlage einer kurzen Recherche im Medioevo Latino geneigt zu fragen, was der Beitrag von Briguglia, Dewender, Kosuch, Lambertini, Tavolaro oder Walther zur Forschungsdiskussion war. Ein häufiger festzustellendes Phänomen ist, dass nicht-anglophone Literatur punktuell erwähnt wird, die relevanten Diskussionsbeiträge aber alle aus anglophoner Literatur stammen. Zu Nikolaus von Kues und dessen De Concordantia Catholica haben augenscheinlich weder Fubini, Guzman Miroy noch Meuthen Relevantes geschrieben.
[8] Besonders das Zitat von Dilthey nimmt Nedermans Urteil ein wenig vorweg. Wie Anm. [3], Sp. 2065.
Andreas Kistner