Meinolf Vielberg (Hg.): Universitäts- und Bildungslandschaften um 1800. 200 Jahre Philologisches Seminar in Jena (= Altertumswissenschaftliches Kolloquium; Bd. 27), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 203 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12580-2, EUR 44,00
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Seminare und Labore wurden im 19. Jahrhundert zum Fundament der Forschungsuniversität im deutschen Universitätsmodell, dessen Akteure überzeugt waren, wissenschaftliche Bildung erreiche man nur, wenn man verstehe, was Forschung ist. Die Tagung, aus der dieser Band hervorging, widmete sich der Gründung des Jenaer philologischen Seminars im Jahre 1817, seiner Vorgeschichte und Wirkungen. Damit verbindet sich zumindest bei einigen Autoren der Anspruch, Jena als einen Ursprungsort für das deutsche Universitätsmodell, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete, nachzuweisen. Es stehe nicht in der "Tradition Humboldts und Berlins" (37), sei keine Neustiftung nach Berliner Vorbild, sondern Jena habe Reformstränge, die zuvor in Göttingen initiiert und in Halle weitergeführt wurden, aufgenommen, sie "zusammengebunden und weitergesponnen" (29). Klaus Ries stellt dies unter den Titel "Wissenschaft und Leben". Eine "'intergenerationelle Wertegemeinschaft' aus politischer Professoren- und Studentenschaft" (35) sei erstmals in Jena verwirklicht worden - Ausgangspunkt eines prekären Weges zwischen den Polen "Politisierung der Wissenschaft mit der Gefahr der Aufgabe ihrer Wissenschaftlichkeit und die Verwissenschaftlichung der Wissenschaften mit der Gefahr des Lebensverlustes" (37) Während Ries Forschungen zusammenfasst (einschließlich seiner eigenen) und Jena als Aufbruchsort der Berliner Ursprungserzählung entgegenstellt, untersuchen andere Beiträge aus den Quellen die Jenaer Seminargründung und das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie geschah.
Das Umfeld, in das die Seminargründung eingebettet war - ein "'Sozietäten-Geflecht'", in dem "das 'vernetzte Nebeneinander' ganz unterschiedlicher Institutionen" (75) einen Kommunikationsraum von und für Gebildete schuf -, untersucht eingehend Felicitas Marwinski. Sie unterscheidet mehrere Gesellschaftstypen (Literarische Gesellschaft, Naturforschende Gesellschaft), skizziert die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten, ihre Organisationsformen und Mitgliedschaften. Sie macht das an "Jenaer Beispielen", um "die aus der Aufklärung erwachsende, vielerorts zu beobachtende Sozietätsbewegung [...] zu konkretisieren" (39). Jena ist in ihrer Studie ein aktiver Ort neben anderen, kein Ursprungsort. Zu ihm wird Jena in Meinolf Vielbergs Studie zur "Vorgeschichte, Voraussetzungen und Verlauf der Gründung des philologischen Seminars" (so der Titel). Die genaue Analyse des Gründungsprozesses wurde möglich, weil der Nachlass von Heinrich Carl Abraham Eichstädt, einem der Gründer, aufgefunden wurde. Einige Dokumente daraus bietet der Band als Anhang. Die an der Gründung des Seminars beteiligten Personen verfolgten unterschiedlich Konzepte. Unklar war vor allem, in welcher Beziehung, auch finanziell, das Seminar zur älteren Societas Latina Jenensis stehen sollte. In der damaligen politischen Krisenzeit zog sich der Gründungsprozess über zwei Jahrzehnte hin. Im Vergleich zu anderen Universitäten im Alten Reich war es eine späte Gründung. Es bedarf deshalb einiger argumentativer Anstrengung, um Jena dennoch als Pionier auszuweisen. Vielberg ordnet den Typus Seminar einem "Kulturmuster" zu, "das am Anfang des 18. Jahrhunderts in Jena erdacht wurde, von Göttingen seinen Ausgang nahm und sich schnell an den Universitäten im Alten Reich verbreitete. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts kehrte das Seminar an seinen Ursprungsort zurück, bevor es im 20. Jahrhundert über anglo-amerikanische Universitäten weltweite Verbreitung fand." (90) So wird Jena zum Geburtsort eines "Kulturmusters" und mit weltgeschichtlicher Bedeutung in der Geschichte der modernen Universität aufgeladen.
Ohne diesen Originalitätsanspruch kommen das Grußwort des Erfurter Akademiepräsidenten Klaus Manger aus (zeitgenössisch habe die Seminargründung wenig Aufmerksamkeit erregt), und ebenso die Beiträge von Gerhard Müller zur Korrespondenz von Eichstädt mit den Weimarer Ministern Goethe und Voigt (1803-1817) und von Angelika Geyer zu "Winckelmann, Goethe, Carl Wilhelm Goettling und die Genese der Klassischen Archäologie an der Universität Jena". In letzterem werden die "Lösung der Archäologie von winckelmannschen und von Goethe weitergetragenen Zugriffsweisen und Interpretationsebenen" und die im Vergleich zu anderen Universitäten späte Verselbständigung der Archäologie als Fach in Jena verfolgt. Den Abschluss bildet ein ausführlicher Beitrag von Hans-Joachim Glücklich über "Problem und Chance des Lateinunterrichts". Er löst sich weitgehend von Jena. Die Zeit der Seminargründung, hier erscheint sie als "die Zeit Goethes und Schillers", bildet den Ausgangspunkt für die "nicht-lateinischen Zeiten", denen der Autor demonstriert, wie man lateinische "Texte lesen, verstehen, interpretieren" (so der Obertitel) sollte. Ihm geht es um "Latein für Lateinlerner" (138). Jena ist hier kein besonderer Ort.
Was die Gründung des Jenaer philologischen Seminars für die Geschichte des deutschen Universitätsmodells bedeutet hat, ist dem Band nicht leicht zu entnehmen. Vielleicht sollte man dieser Seminargründung nicht zu schwere Erklärungslast für die Universitätsgeschichte in Deutschland und in der Welt aufbürden.
Dieter Langewiesche