Jens Herold: Der junge Gustav Schmoller. Sozialwissenschaft und Liberalkonservatismus im 19. Jahrhundert (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 19), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 336 S., ISBN 978-3-525-31722-8, EUR 65,00
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Dieses Buch endet mit einer überraschenden Schlussbemerkung. Nicht den "spezifischen Ideen, Denkwegen und intellektuellen Innovationen" habe der Autor in dieser Biografie über die erste Lebenshälfte des Heilbronner Nationalökonomen Gustav Schmoller folgen wollen; vielmehr habe die habituelle und akademische Entwicklung eines für die Zeit typischen Wissenschaftlers im Zentrum gestanden (292). Dieser biografische Zugriff, gleichsam das Gegenteil einer klassischen intellektuellen Biografie, der das Individuum weniger als seine soziale Umgebung thematisiert, hat sich aber nunmehr in den Geschichtswissenschaften etabliert. Die vorliegende, als Dissertation an der Humboldt-Universität Berlin eingereichte Studie von Jens Herold orientiert sich an Vorbildern wie den Arbeiten von Margit Szöllösi-Janze über Fritz Haber oder Friedrich Lenger über Werner Sombart, die dafür stehen, "die Wissenschaftlerbiographie auf eine höhere Generalisierungsebene zu verschieben" (19).
Somit rücken Aspekte wie Gelehrten- und Wissenschaftspolitik in den Blick, worunter sowohl Prozesse der Politisierung der Wissenschaft als auch der Akademisierung der Politik verstanden werden können. Diese Wechselwirkungen fasst Herold unter dem Neo-Kompositum des "Liberalkonservatismus" zusammen, das dazu dient, Schmollers Mittelstellung zwischen (Alt-)Liberalismus und konservativen Sozialreformen zu kennzeichnen (14). Ferner trug er in "den Dekaden zwischen Karl Marx und Max Weber" in bislang unterschätzter Weise zur Formation der Sozialwissenschaften bei (16f.). Schmoller wird so nicht nur als der wohl bekannteste Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, sondern als Brückenbauer zwischen ganz unterschiedlichen akademischen und politischen Strömungen, die vom Sozialismus Lassallescher Prägung bis zum Nationalkonservatismus Treitschkes reichen, porträtiert.
Dieses Unterfangen gelingt nicht zuletzt auch deshalb, weil Herold sich mutig entscheidet, seine biografische Studie nicht nur den biologischen Rhythmen des Lebenslaufs folgen zu lassen. Das Werk endet nicht mit dem Tod Schmollers im Jahr 1917, sondern begründet den Schluss der Betrachtung um 1882 wissenssoziologisch mit der Berufung an die Berliner Universität. Dort "angekommen" habe Schmoller dann zwar noch als mächtiger Angehöriger der bildungsbürgerlichen Elite gewirkt, allerdings, so Herolds gewagte Kontinuitätsthese, das einmal in den frühen 1860er Jahre gefestigte liberalkonservative Programm nicht mehr wesentlich ausgearbeitet (27). Anhand der davor liegenden Lebensstationen wird Schmollers Funktion in einer Übergangsphase der deutschen Wissenschaften und Politik im post-1848er-Zeitalter vor der Reichsgründung erläutert. Herold beschreibt die vielfältigen Tätigkeitsfelder einerseits quellennah anhand der Korrespondenz und einiger Notizhefte aus dem Nachlass Schmollers, andererseits kontextualisiert er sie vor einem breiten Themenspektrum von klein- und großdeutschen Konflikten, Sozialreformen und Wissenschaftspolitik.
Brillant ist Herolds Analyse, wie der Student bürgerlicher Herkunft im Königreich Württemberg von Beginn an durch geschickte Netzwerkarbeit bei den Koryphäen der damaligen Nationalökonomie, wie Knies, Roscher, Hildebrand, seine akademische Karriere vorbereitete. Schon in seiner Erstveröffentlichung "Zur Geschichte der national-ökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformations-Periode" (1860), seien alle wesentlichen Punkte der später für Schmoller so typischen "ethischen Geschichtsauffassung" in der Nationalökonomie angelegt gewesen (33). Das Werk ebnete ihm als in Tübingen eingereichte Dissertation dann den schnellen Weg zur ersten Professur in Halle, die er aber, so Herold, insbesondere aufgrund seiner gezielt preußenfreundlichen Haltung 1864 erhielt (75).
Mit der Professur im Rücken gelang es dem immer noch jungen Schmoller, sein akademisch-politisches Netzwerk auszubauen. Er betätigte sich lokalpolitisch in Halle und gehörte mit zu denen, die die Kriegsstimmung im Vorfeld des Kriegs zwischen Preußen und Österreich verschärften (91). In diesen Jahren ritt Schmoller sozusagen auf der Welle der Sozialen Frage, veröffentlichte Texte, die der "Amalgamierung von liberaler und konservativer Gesinnung" Ausdruck verliehen (107), beschäftigte sich mit Fichtes Idee eines "Socialstaats" und las das Werk Lassalles mit grundsätzlicher Offenheit (111-123). Derartige Vermittlungsversuche endeten indes 1872, als Schmoller auf dem Eisenacher Kongress, der zur Gründung des Vereins für Socialpolitik führte, das Aushängeschild der von nun an sogenannten "Kathedersozialisten" wurde (152-162). Vereint gegen die eher außerakademisch vertretene Freihandelsschule der "Manchester-Liberalen" war es von nun an Ziel der Gruppe um Schmoller, ein Programm einer ethisch-historisch fundierten Nationalökonomie zu entwickeln, das in der Wissenschaft und Politik weite Kreise ziehen sollte.
Herold zeichnet den Prozess der "Normalisierung" dieses politischen Wissenschaftsprogramms an drei Verläufen nach (162). Kurz nach dem Eisenacher Kongress brach die alte Freundschaft mit Heinrich von Treitschke über die von Schmoller formulierte ethische Gesellschaftsvorstellung, die der frisch berufene Berliner Historiker in seiner Schrift über den "Socialismus und seine Gönner" als Angriff auf das Bürgertum brandmarkte (166-171). Der Gelehrtenstreit machte Schmoller nicht nur reichsweit bekannt, er brachte ihn, wie Herold überzeugend herausarbeitet, dazu, seine eigene argumentative Methode "historistisch" zu verfeinern (171-177). Denn den drohenden Relativismus-Vorwurf, der im Streit mit Treitschke aufgrund seines normativ aufgeladenen Gesellschaftsmodells virulent wurde, versuchte Schmoller durch eine Hinwendung zum empirischen Realismus, insbesondere im Sinne John Stuart Mills, abzuwenden (189-193). Der in dieser Zeit losgetretene ältere Methodenstreit der Nationalökonomie, den er mit dem Wiener Nationalökonomen Carl Menger führte, verebbte zwar in den frühen 1880er Jahren nicht zuletzt an "Schmollers nivellierender Versöhnlichkeit" (209). Aber für den Konflikt der späteren Soziologen-Generation um Max Weber und Werner Sombart war Schmollers Position im sogenannten Werturteilsstreit weiterhin Dreh- und Angelpunkt der Debatte. Als dritte Säule, die Schmollers Wissenschaftsprogramm im deutschen akademischen Milieu festigte, gilt Herold indes die Hinwendung zur Statistik als qualitativ-historisches Untersuchungsinstrument der Nationalökonomie bzw. der Staatswissenschaft und Volkwirtschaftslehre wie sie Schmoller in seiner Straßburger Zeit als Vorläufer moderner "Verbundforschung" etablierte (245). Hier wirkte er als Wissenschaftsmanager, der Mitarbeiter und Kollegen für größere Forschungsprojekte in seinem staatswissenschaftlichen Seminar und seiner Zeitschrift ("Schmollers Jahrbuch", ab 1881) beschäftigte und finanzierte (236-245).
So steht am Ende "Schmollers Reich" (257-292); ein Reich, das Herold durchaus kritisch einzuschätzen weiß. Allerdings unterzieht er die weitgehend negative Verortung Schmollers durch Hans-Ulrich Wehler in den nationalistisch-autoritären Zeitgeist eines "deutschen Sonderwegs" nach 1879 einer Relativierung (263f.): Ja, der alte Schmoller war ein etablierter "Insider des Staats" (278), nationalistisch gesinnt, aber immer um Vermittlung der radikalen Tendenzen im Reich bemüht, einer, der "prinzipiell ein 'nationalliberal-freikonservatives Kontinuum von "gouvernementaler Intelligenz"' repräsentierte" (279). Die Beobachtung Herolds, dass es diese Universalität Schmollers im Kaiserreich war, die junge Professoren wie Max Weber dazu motivierten, ihn als Repräsentanten des akademischen Establishments im Werturteilsstreit und anderswo anzugreifen ("Schmollerei"), mag durchaus einleuchten. Dass es aber auch diese Omnipräsenz so schwierig macht, eine biografische Kohärenz für eine Person in ihrem Umfeld herzustellen, entgeht Herold an keiner Stelle seiner Arbeit, und er lässt auch nicht den Eindruck entstehen, ihm ginge es darum.
Jens Herold hat mit dieser Biografie einen wichtigen Beitrag nicht nur zu einer zentralen Figur des Wissenschaftsbetriebs des 19. Jahrhunderts, sondern auch zur Geschichte der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften vorgelegt. Die exzellent geschriebene Studie wertet geradezu nebenbei die Person Gustav Schmoller als Protagonisten einer Transformationsphase in der Wissenschaftsgeschichte auf, macht aber insbesondere den Blick frei auf habituelle, politische und soziale Dynamiken, die das deutsche akademische Milieu in dieser Zeit prägten.
Benjamin Steiner