Theodor Klüppel (Bearb.): Die Geschichte von Cluny in den fünf großen Abtbiographien (= Bibliothek der Mittellateinischen Literatur; Bd. 15), Stuttgart: Anton Hiersemann 2018, 385 S., ISBN 978-3-7772-1819-9, EUR 224,00
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Zunächst handelte es sich um ein unscheinbares Pflänzchen. Als das Kloster Cluny im Jahr 910 als Schenkung Wilhelms III. von Aquitanien gegründet wurde, deutete nichts auf die Machtstellung hin, die Cluny während zweier Jahrhunderte in Europa innehaben sollte. Direkt dem Papst unterstellt, wurde Cluny zum Ausgangspunkt einer Reformbewegung, der sich im Laufe der Zeit immer mehr Klöster anschlossen. Mitverantwortlich für diesen Erfolg waren Äbte, die sicherlich das waren, was heute mit dem Begriff "charismatisch" umrissen wird, die aufgrund der extrem langen Regierungszeit, die ihnen beschieden war, aber auch die Zeit hatten, ihre Anliegen und Reformkonzepte mit langem Atem zu verwirklichen. Biologische "Zufälle" häuften sich: Reiht man die Regierungsjahre der fünf Großäbte, deren Viten Gegenstand der vorliegenden Übersetzung sind (Odo, Maiolus, Odilo, Hugo und Petrus Venerabilis) aneinander, ergibt dies in summa mehr als zwei Jahrhunderte. Ein Abt, Hugo I. (1049-1109), sollte dem Klosterverband gar 60 Jahre vorstehen.
Diese fünf Äbte wurden bereits zu Lebzeiten als Heilige verehrt und nach ihrem Ableben durch die Abfassung einer oder mehrerer Viten gewürdigt. Ihr Leben galt in vielerlei Hinsicht als vorbildhaft. Die Geschichtswissenschaft steht dem Genre der hagiographisch grundierten Vita mit mehr oder minder begründetem Argwohn gegenüber, doch sind die Zeiten vorbei, in denen Historiker wie Ernst Sackur mit Blick auf die Odilo-Vita behaupten konnten, dass darin "das äußere Leben des Helden in nichts zerflossen" sei. [1] Viten bieten als beispielhaft empfundene Lebensentwürfe, die ihrerseits zur christlichen Nachfolge anregen sollen. Haltungen sind (zumindest im Fall der Cluny-Äbte) wichtiger als außergewöhnliche Begabungen. Und wenn über Wunder und Visionen auf die Gottesnähe der Protagonisten hingewiesen wird, so steht doch immer fest, dass Gott allein der Urheber aller Wundertaten ist. Viten sind Geschichtsquellen eigener Art. Verifizierbare Daten und Fakten stehen mit Blick auf das intendierte Verständnis bei ihnen sicherlich nicht an erster Stelle. Dass etwa Hugo I. mit Cluny III den größten Kirchenbau der damaligen Zeit, der einer "kaiserlichen Audienzhalle" (327) glich, errichten ließ, ist der Vita ein einziges schmales Kapitel wert und auch sein durchaus erfolgreiches Agieren im sog. Investiturstreit bleibt unerwähnt. Immerhin wird festgehalten, dass die Mönche beim Betreten des monumentalen Kirchenraums fortan glaubten, "ins Paradies" (328) einzuziehen.
In Cluny verfügte man nicht über einen charismatischen Gründungsabt mit visionären Ideen. Visionäres bündelte sich bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts in fünf herausragenden Abtspersönlichkeiten, die bezeichnenderweise auch nicht alle aufeinander folgten. Petrus Venerabilis (Regierungszeit: 1122-1156) war der letzte in der Reihe der "großen" Äbte: Mit und unter ihm erreichte ein Klosterverband seinen Zenit, als dessen Spezialität das immerwährende Gebet galt. Die Gebete der Mönche entrissen die Seelen der Verstorbenen dem Fegefeuer. Nicht zufällig wurde in Cluny das am Tag nach Allerheiligen gefeierte Fest Allerseelen (2. November) "erfunden". Die Abtsbiographien zeigen, wie sich Cluny selbst sah und verstand. Walter Berschin bezeichnet sie zu Recht als "wichtigstes literarisches Monument des Klosters". [2]
In Auszügen lagen diese Viten bereits seit längerem in deutscher Übersetzung vor. Hier aber werden sie zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übertragen. Die Arbeit des Übersetzers, der dem Grundsatz des "möglichst nahe am lateinischen Text" folgte, kann dabei nicht hoch genug gelobt werden. Nähe zur lateinischen Vorlage verliert das heutige Sprachempfinden aber an keiner Stelle aus dem Blick. Mit anderen Worten: Die Biographien lesen sich erstaunlich gut.
In den Viten reihen sich nicht nur mehr oder minder spektakuläre Wunder ante/post mortem aneinander. Man erfährt viel über die cluniazensische Lebenspraxis und Ereignisse, die von einem Chronisten als "Blumen, die gepflückt werden auf schönen Wiesen" (95) beschrieben werden. Man schmunzelt über nationale Stereotype, so wenn etwa der italienische Biograph Abt Odos berichtet, dieser habe sich bescheiden ernährt "und, was gegen die Natur der Franken ist, er trank nur sehr wenig" (22). Mitunter ertappt sich der Rezensent vor dem Hintergrund der aktuellen kirchenpolitischen Großwetterlage dabei, in Passagen der Art "Es war ein Brauch jenes Ortes, dass der Leiter der Schule nie mit einem Jungen allein irgendwohin ging, nicht einmal für die natürlichen Bedürfnisse" (33) oder "Denn er liebte die Kinder, nicht indem er Ausschweifungen suchte, sondern indem er in frommer Weise die Unschuld ihres Alters schätzte" (209) eine Bedeutung hineinzulesen, die der Intention des Autors der jeweiligen Textabschnitte wohl kaum entsprochen haben dürfte. Der Grad an Detailfreude ist mitunter verstörend, so etwa wenn mit Blick auf einen sich selbst kasteienden Mönch gesagt wird: "Und als er den Strick von seiner Haut lösen wollte, ließ sich auch die daran hängende Haut zusammen mit Wundflüssigkeit wegziehen" (63).
Jeder Vita sind kurze Bemerkungen zur beschriebenen Abtspersönlichkeit und zum Autor vorgeschaltet. Auf denkbar knappem Raum werden hier die wichtigsten Fakten geliefert. Den interessierten Leser verlangt es jedoch mitunter nach mehr. Zur Überlieferungsgeschichte der Texte erfährt man wenig mehr als die dürre Bemerkung, die Abtbiographien seien "in einer Reihe von Handschriften unter dem Titel Vitae abbatum Cluniacensium gesammelt worden" (XVII). Immerhin liegen drei von fünf Texten in modernen kritischen Editionen vor, bei denen der Blick in Mignes Patrologia Latina also unterbleiben kann. Die Fußnoten sind ebenfalls knapp gehalten. Namen und Orte werden ebenso wie Bibelstellen und Zitate aus Werken anderer Autoren meistens nachgewiesen, mehr erfolgt jedoch kaum. Weshalb beispielsweise der Nachweis des in der Odilo-Vita genannten Ortes Besorniacum (209) unterbleibt, erschließt sich dem Rezensenten ebenso wenig wie der Verzicht auf ein Sachregister, das gerade vergleichendes Lesen erleichtert hätte.
Die Kritikpunkte verblassen freilich hinter dem Gesamtergebnis. Die Übersetzung, die mit nicht immer über jeden grammatikalischen und inhaltlichen Zweifel erhabenen lateinischen Vorlagen zu kämpfen hatte, liest sich, wie bereits angedeutet, hervorragend. Mitunter wird dabei insbesondere bei metrischen Passagen auf bereits bestehende Übertragungen zurückgegriffen, so etwa bei einem der Odilo-Vita beigegebenen Planctus (250-257), dem die kongeniale Übertragung von Abt Thomas (II.) Bossart von Altishofen (†1923) zugrunde gelegt wurde, die zwar ihrerseits nicht jede rhetorische Figur der lateinischen Vorlage aufnimmt, aber einen Grad an sprachlicher Schönheit erreicht, der gleichermaßen erstaunt wie erfreut. Der Band eignet sich hervorragend für den Einsatz im akademischen Unterricht - Mittelalter, wie es farbiger kaum sein kann.
Anmerkungen:
[1] Ernst Sackur: Die Cluniacenser in ihrer kirchlichen und allgemeingeschichtlichen Wirksamkeit bis zur Mitte des elften Jahrhunderts, 2 Bde., Halle a.d. Saale 1892/94, hier I, 299.
[2] Walter Berschin: Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, 5 Bde., Stuttgart 1986-204, hier IV/2, 309.
Ralf Lützelschwab