Julia Bernstein: Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde - Analysen - Handlungsoptionen. Mit Online-Materialien, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2020, 615 S., ISBN 978-3-7799-6224-3, EUR 49,95
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Die Bekämpfung von Judenfeindschaft scheint vielen Pädagoginnen und Pädagogen vor allem eine Aufgabe der historischen Bildung zu sein. Wenn Jugendliche und junge Erwachsene hinreichend über den Nationalsozialismus und die Shoah aufgeklärt werden, wenn sie eine KZ-Gedenkstätte besuchen, so die Hoffnung, sollen sie dadurch gegen judenfeindliche Vorstellungen und Ressentiments ebenso gefeit sein wie gegen rassistische. Diese Erwartung an die Holocaust Education wurde wiederholt hinterfragt. Warum sie sich in Bezug auf den Antisemitismus in allen seinen Ausprägungen nicht erfüllen kann, zeigt die Soziologin Julia Bernstein anhand der Interviews, die sie und ihr Team mit 251 Schülerinnen, Schülern, Erzieherinnen und Erziehern und Lehrkräften geführt haben.
So sei zum Beispiel der bedeutsame Unterschied zwischen dem modernen Antisemitismus und den verschiedenen Formen des Rassismus kaum Thema des Geschichtsunterrichts - obwohl die Nationalsozialisten in ihrem rassistischen Weltbild allein die "Juden" als eine "Gegenrasse" imaginierten (41). Die Erinnerung an die Shoah kann zudem bei nichtjüdischen Deutschen Abwehrreaktionen hervorrufen und den Schuldabwehr-Antisemitismus motivieren. So gibt es nicht nur unter Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter Lehrkräften die notorischen Bemühungen, das einmalige Verbrechen mit allen erdenklichen Menschenrechtsverletzungen gleichsetzen, am liebsten mit denen, die sich dem Staat Israel zuschreiben lassen. Im Fokus von Bernsteins Studie stehen deswegen diese drei Themen: die Besonderheit des Antisemitismus gegenüber dem Rassismus, der israelbezogene Antisemitismus und die Echos der NS-Vergangenheit.
Bernsteins Untersuchung zeichnet sich gegenüber anderen Erhebungen zum aktuellen Antisemitismus dadurch aus, dass sie auf Interviews mit Jüdinnen und Juden an deutschen Schulen basiert und die Sichtweise der Betroffenen ernst nimmt. Das Ergebnis ist nicht weniger als erschreckend zu nennen: Während jüdisches Leben in seiner Vielfalt an deutschen Schulen alles andere als eine Normalität ist, "stellt sich Antisemitismus an Schulen für die Betroffenen als 'Normalzustand' dar". In den klassischen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern kommen Jüdinnen und Juden "häufig entweder als 'Opfer' (in Bezug auf die Shoah) oder als 'Täter' (in Bezug auf Israel)" vor (479 f.). "So kann man nicht einfach ein 'normales' jüdisches Kind in Deutschland sein." (99) Die latente oder offene Feindseligkeit, mit der sich jüdische Jugendliche konfrontiert sehen, führt oft dazu, dass sie "ihre Identität [...] verbergen" (483). Und deswegen glauben wiederum Lehrkräfte, Antisemitismus könne an ihrer Schule kein Problem sein, denn es sei niemand von judenfeindlichen Haltungen persönlich betroffen.
Das zweite Ergebnis: An deutschen Schulen werden die Themen "Israelkritik", Antisemitismus und jüdisches Leben in Deutschland nicht klar unterschieden. Jüdische Schülerinnen und Schüler werden, so Bernstein, gern "zu Repräsentant*innen Israels [...] gemacht" (201). Nicht unbedingt aus böser Absicht. Sie werden angefragt, ob sie einer Klasse etwas über den Israel-Palästina-Konflikt erzählen können, ganz so als wären sie Israelis. Und Bernstein zeigt an mehreren Beispielen, wie nichtjüdische Lehrkräfte die Konflikte im Nahen Osten mit der deutschen Geschichte verknüpfen. Zum Beispiel durch den Kommentar: "Die letzten Vorfälle am Gaza-Streifen, da sterben Leute, weil sie auf die andere Seite vom Zaun wollen, das geht nicht, genauso wenig wie Menschen in die Gaskammer zu schicken." (222, Kursivierung im Original)
Es ist wichtig, wie Julia Bernstein darauf zu bestehen, dass jüdisches Leben in Deutschland normal zu sein habe: ohne Polizeischutz vor jüdischen Einrichtungen, ohne Gewalt, ohne alltägliche Diskriminierung. Der Fall an einer Berliner Schule 2017, an dem ein jüdischer Schüler nach monatelangen Aggressionen die Schule wechselte, während die Täter bleiben durften, sei leider kein Einzelfall. Das "entschiedene Handeln der Lehrkräfte" bei antisemitischen Vorfällen sei "von wesentlicher Bedeutung", da sich Antisemitismus "normalisiert, wenn er unwidersprochen bleibt" (402). Dafür sei es notwendig, Antisemitismus in seiner Besonderheit gegenüber den verschiedenen Formen des Rassismus zu begreifen und nicht zu glauben, an einer "Schule mit Courage - Schule ohne Rassismus" wäre Judenfeindschaft unmöglich. Zugleich betont Bernstein, dass stets die "antisemitische Äußerung zu kritisieren" sei und dass es nicht darum gehe, die Schülerin oder den Schüler, die sie gemacht haben, "als Person zu bewerten" (404).
Bernstein betont, dass ihre Erhebung eine qualitative, keine quantitative ist. Das liege auch am Gegenstand: Da antisemitische Aussagen und Handlungen "ob ihres Normalisierungsgrades allzu häufig nicht als solche erkannt" würden, sei die "Verbreitung" der Judenfeindschaft "schwerlich quantifizierbar" (70). Man merkt der Studie an, dass die Forschung im Frühjahr 2019 abgeschlossen war. Die Tendenz, "muslimische Schüler*innen pauschal als Gruppe für den Antisemitismus an Schulen verantwortlich zu machen", ist zwar schon erkennbar (163). Aber die aktuellen Auswirkungen der neuen rechten Bewegungen oder Parteien wie der AfD auf die gesellschaftliche Stimmung lassen sich nur erahnen. Dabei kann man sich vorstellen, wie Björn Höcke als Geschichtslehrer den Nationalsozialismus und die Shoah behandelt.
Die Geschichtswissenschaft muss ohnehin seit Längerem damit umgehen, dass ihre Forschungsergebnisse über die Nazi-Zeit im heutigen öffentlichen Bewusstsein ins Gegenteil verkehrt werden. "Paradoxerweise", so schreiben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, sei es "gerade die gelungene Aufklärung" über die NS-Verbrechen, die "bei den Kindern und Enkeln das Bedürfnis erzeugt", die eigenen Eltern und Großeltern in der Geschichte "so zu platzieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt". [1] Leider schützt die beste Aufklärung über den Nationalsozialismus nicht vor dem unbewussten Drang, etwaige Schuldgefühle abzuwehren. Diese Schuldabwehr wird sogar durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte befördert. Deswegen ist eine Voraussetzung für den pädagogischen Umgang mit judenfeindlichen Vorstellungen und Ressentiments, sie auch "unter Lehrer*innen zu problematisieren" (383). Bleibt zu hoffen, dass Julia Bernsteins Studie dafür den Anstoß liefert.
Anmerkung:
[1] Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2002, 13.
Olaf Kistenmacher