Henning Tümmers: AIDS. Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 23), Göttingen: Wallstein 2017, 374 S., ISBN 978-3-8353-3005-4, EUR 39,90
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Der Medizinhistoriker Henning Tümmers unterzieht die Immunschwächekrankheit Aids, die die 1980er und frühen 1990er Jahre global geprägt hat, einer auf beide damalige deutsche Staaten bezogenen "Autopsie einer Bedrohung". Da das HI-Virus insbesondere durch sexuelle Kontakte übertragen wurde, ist Tümmers' Studie auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität und der "Pluralisierung von Lebensstilen" (10) - sei es im Hinblick auf Promiskuität oder auf die gesellschaftliche Situation homosexueller Menschen.
Die Darstellung beginnt mit einer ab 1983 aus den USA "importierte[n] Angst" (55). Zu Recht wird die führende Rolle des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" bei der jahrelangen Medienkampagne über die "[t]ödliche Seuche Aids" herausgestellt, die zugleich eine Stigmatisierung mannmännlicher Sexualität bewirkte. "Aber auch andere Medien schmückten ihre Artikel mit Großaufnahmen sich küssender und umarmender Homosexueller" (59), etwa das Magazin "Stern". Dass damit zwei Leitmedien des linksliberalen Spektrums diese Kampagne anführten, die in den 1970er Jahren noch für eine Politik der Toleranz gegenüber Homosexuellen eingetreten waren, wird nicht diskutiert.
Ursprünglich gingen Medien wie Gesundheitsexperten davon aus, dass man die Betroffenen klar eingrenzen könne. Als "Risikogruppen" wurden männliche Homosexuelle, bestimmte Zuwanderer, Drogenkonsumenten und Empfänger infizierter Blutspende-Konserven identifiziert. Infolgedessen standen der "Umgang mit 'sozialen Randgruppen' [...] und die Frage, in welchem Maße 'deviantes' Verhalten wie Homosexualität tolerierbar sei", im Zentrum der Debatten: "Im Umgang mit der Bedrohung spiegelten sich [...] Imaginationen des Sozialen: Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Miteinander und der Rolle des Staates als Interventionsmacht." (10)
Da die konservativ-liberale Bundesregierung zunächst "kein stringentes Konzept im Kampf gegen Aids entwickelt hatte", preschte 1983 die CDU-Landesregierung von Rheinland-Pfalz mit repressiven Vorschlägen zum Umgang mit "Krankheitsverdächtigen" vor, die allerdings im CDU-geführten Bundesgesundheitsministerium keine Unterstützung fanden. Später übernahm die bayerische CSU-Landesregierung die Rolle des autoritären Wortführers. Unterdessen erschien die DDR im deutsch-deutschen Vergleich als kaum betroffene "epidemiologische Festung" (86). Frühzeitig organisierte das DDR-Gesundheitsministerium eine "'Aids-Beratergruppe'" unter Leitung des Mediziners Niels Sönnichsen und gab Informationen an die Ärzteschaft heraus; ein breiter medialer Diskurs in der Gesellschaft war jedoch zunächst unerwünscht, was die Aufklärung zwangsläufig behinderte. Engagierte Mediziner wie der Jenaer Klinikchef Erwin Günther nahmen 1986 in Eigeninitiative Kontakte zur Homosexuellenszene auf und wurden zunächst amtlich gerügt.
Unterdessen hatte die westdeutsche Gesundheitspolitik 1984 erkannt, dass ein promiskuitives Sexualverhalten allgemein der häufigste Weg zur Ansteckung war - so dass die Bevölkerungsmehrheit ebenso gefährdet schien wie die vermeintlichen "Risikogruppen". Während ein repressiver Gesetzentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium durch interne und öffentliche Kritik blockiert wurde, trafen sich im März 1985 Gesundheitsbürokraten mit Vertretern der von Homosexuellen getragenen zivilgesellschaftlichen "Deutschen Aids-Hilfe". Deren "Präventionskonzept" zielte auf Repressionsvermeidung, Kooperation mit der schwulen Subkultur und Eigenverantwortlichkeit. Die seit September 1985 amtierende neue Gesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) appellierte Ende 1985 in einer an alle Haushalte versandten Broschüre an "das 'präventive Selbst' der Bürger" (120) und publizierte 1987 ein Buch über Aids, um "Wege aus der Angst" aufzuzeigen und gegen die Ausgrenzung von Betroffenen anzugehen. Im Frühjahr 1987 wurde Süssmuths "liberale Anti-Aids-Politik" per Koalitionsvertrag in ein "Sofortprogramm" überführt (153), das ein staatliches Bündnis mit der Aids-Hilfe schmiedete. Man startete eine breite Aufklärungskampagne unter dem Slogan "Gib AIDS keine Chance". Diese wurde durch eine Enquete-Kommission des Bundestages zusätzlich legitimiert. Widerspruch erhob sich seitens katholischer Bischöfe, die Aids auf die promiskuitive Freizügigkeit seit der "sexuellen Revolution" der 1960er Jahre zurückführten. Hingegen fand die evangelische Kirche zu Aids "keine klare Linie" (199), was Spielräume eröffnete: "Die Ministerin ging mit protestantischen Stimmen konform, die überkommene Haltungen innerhalb der Kirche ablehnten und für eine Öffnung eintraten." (204)
Wenn Tümmers mit Blick auf die DDR feststellt, das Beispiel Aids zeige, "wie wenig die SED und ihr Gesundheitswesen den DDR-Bürgern vertrauten beziehungsweise ihnen Eigeninitiative zutrauten" (213), trifft dies nur für die Spitze des SED-Regimes zu, nicht aber für viele andere Akteure. Die DDR-Bevölkerung hatte sich längst über West-Medien informiert. Die in kirchlichen Arbeitskreisen organisierten Teile der Homosexuellen in der DDR warteten nicht auf Erlaubnis zur Eigeninitiative, sondern beschäftigten sich aktiv mit Aids und kommunizierten dies über die evangelische Kirchenpresse. DDR-Mediziner, darunter Sönnichsen, gingen auf die organisierten Homosexuellen zu und etablierten Ansätze von Kooperation. Im Unterschied zu Tümmers haben zeitgenössische westdeutsche Beobachter schon 1987 gesehen, wie sehr in der DDR "die Diskussion um AIDS und wirksame Gegenmaßnahmen [...] als ein Katalysator für Liberalisierungstendenzen" im Umgang mit Homosexualität zu wirken vermochte [1]. Dies nimmt Tümmers ebenso wenig wahr wie die kommunikativen Vernetzungen zwischen den westlichen und östlichen Homosexuellenbewegungen. Überzeugend hingegen analysiert er die Verflechtungen der offiziellen Aids-Politiken - nicht nur die autoritären Konvergenzen zwischen SED-Regime und bayerischer CSU-Landespolitik, sondern auch die ab Frühjahr 1987 geknüpften Kooperationskontakte mit der SPD-Regierung im Saarland. Parallel zu diesen Neben-Aidspolitiken westdeutscher Landespolitiker hatte Süssmuth Arbeitskontakte zu ihrem DDR-Kollegen Ludwig Mecklinger etabliert. Diese Kooperation wurde im September 1987 beim Bonn-Besuch des SED-Generalsekretärs Erich Honecker auf höchster Ebene besiegelt. Während ursprünglich die autoritäre Aidspolitik der DDR von der bayerischen CSU und vom Sozialdemokraten Lafontaine als vorbildlich betrachtet wurde, wandelte sich der SED-Kurs nach dem Honecker-Besuch zur Nachahmung des Süssmuth-Kurses - inklusive der Übernahme des Slogans "Gib AIDS keine Chance".
Insgesamt ist Tümmers eine eindrucksvolle Studie über den Umgang mit Aids in beiden deutschen Staaten gelungen, die verflechtungsgeschichtlich hochinteressant ist. Die Eigendynamiken der DDR-Gesellschaft hat er allerdings klar unterschätzt. Auch hinsichtlich Westdeutschlands hätte der Verfasser stärker Akteure von unten, namentlich die Aids-Hilfe sowie die Mediendiskurse der Schwulen- und Lesbenbewegung, heranziehen können, um seine verengte Top-Down-Perspektive zu relativieren. Treffend hingegen wird der Umgang mit Aids für die Bundesrepublik als Wendepunkt zugunsten einer "große[n] Wissensoffensive" betrachtet, "die auf einem liberalen und die Freiheiten des Individuums achtenden Weg zu einem Mehr an Eigenverantwortung, Solidarität und Kooperationsbereitschaft führen sollte" (335). Dieser Befund gewinnt in Zeiten von Corona besondere Relevanz. Ein "roll back" in Richtung konservativer Sittlichkeitsvorstellungen wurde von Bonner Verantwortlichen zwar kurzfristig erwogen, war aber durch den Süssmuth-Kurs "nicht länger diskutabel" (337). Dass sich der Umgang mit Sexualität infolge von Aids seither gleichwohl gravierend gewandelt hat, vermag Tümmers nur anzudeuten. Hingegen wird sehr gut gezeigt, dass im deutsch-deutschen Verhältnis das SED-Regime im Bereich Aidspolitik keineswegs immer nur der schwächere Akteur war, denn "zumindest zeitweise" verschoben sich die "etablierten Machtverhältnisse" dadurch, dass westdeutsche "Kooperationspartner aus München und Saarbrücken" der DDR "die effizientere Lösung" attestierten (340). Der Gegensatz zwischen autoritärer und liberaler Aidspolitik verlief keineswegs entlang der Mauer, sondern mitten durch die Bundesrepublik.
Anmerkung:
[1] Rüdiger Pieper: Homosexuelle in der DDR, in: Deutschland Archiv 20 (1987), 956-964, hier 962.
Michael Schwartz