Marie Müller-Zetzsche: DDR-Geschichte im Klassenzimmer. Deutung und Wissensvermittlung in Deutschland und Frankreich nach 1990, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020, 405 S., ISBN 978-3-7344-0927-1, EUR 44,00
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Mit dem Buch "DDR-Geschichte im Klassenzimmer" legt Marie Müller-Zetzsche pünktlich zum geschichtskulturellen Vereinigungsjubiläum eine wichtige Studie vor, mit der sie durch einen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich den Diskurs um die Einordnung der DDR-Geschichte um eine europäische Perspektive gewinnbringend erweitert. Die Autorin spannt in ihrer empirischen Untersuchung der DDR-Geschichtsvermittlung seit 1990 einen beeindruckend breiten Bogen, indem sie verschiedene Ebenen in den Blick nimmt, die für den Geschichtsunterricht von Belang sind: Sie untersucht erstens die "Wissensproduktion" in Form geschichtspolitisch intendierter Vermittlung in Lehrplänen und Ausstellungen. Zweitens analysiert sie Schulbücher als wichtige Vermittlungsmedien und richtet drittens den Blick auf die Wissensrezeption, indem sie die Vermittlungspraxis im Geschichtsunterricht untersucht.
Diese drei Analyseebenen sind zugleich strukturbildend für die Gliederung des Bandes, denen je ein Hauptkapitel gewidmet ist. Vorangestellt sind die Einführung, inklusive einer Skizzierung der methodischen Umsetzung, und ein Theoriekapitel, in dem die Autorin sehr konzise einen klaren Überblick über wissenschaftliche DDR-Deutungen gibt. Besonders lesenswert ist die darauffolgende Ausführung zur Unterscheidung der Historischen Meistererzählung und dem roman national. Letzteres Konzept wurde in Deutschland bisher kaum rezipiert, bietet aber durchaus Impulse zur Schulbuchanalyse. Es folgt eine Vorstellung wissenssoziologischer Theorien zur Aneignung von Geschichte. Kursorisch geht sie dabei auch auf die "Wissensvermittlung im Geschichtsunterricht" (74) ein, allerdings ohne unterschiedliche nationale Auffassungen von gutem Geschichtsunterricht zu reflektieren oder den Wissensbegriff zu problematisieren, was durchaus für die Interpretation der Daten von Belang gewesen wäre. Die Aussagen, dass die Ausbildung von Geschichtslehrkräften darauf ziele, "Jugendlichen Wissen auf dem aktuellen Stand zu präsentieren" (74) oder dass Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker vom Geschichtsunterricht erwarten, "Daten, Zusammenhänge, Biographien und Wertungen" zu vermitteln (75), spiegeln nicht die Debatten innerhalb der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik wider. [1]
Bereits in der Darlegung der unterschiedlichen Analyseebenen werden die hohen Ambitionen erkennbar, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um eine Dissertationsschrift handelt. Ebenso beeindruckend ist der umfassende Datenkorpus, auf den sich die wissenssoziologisch-diskursanalytisch fundierte Analyse stützt: Die Ebene der geschichtspolitisch intendierten Vermittlung untersucht sie zum einen anhand eines Lehrplanvergleichs, bei dem sie dem Lehrplan des zentralistisch strukturierten Frankreichs vier deutsche Lehrpläne aus Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Hessen gegenüberstellt. Zum anderen richtet sie den Blick auf große Geschichtsausstellungen, wie etwa die "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" im Deutschen Historischen Museum oder die "La guerre froide" im Musée du Mémorial, die sie plastisch beschreibt. In die Analyse der ersten beiden Ebenen fließen zudem Erkenntnisse aus 15 leitfadengestützten Interviews mit Expertinnen und Experten ein, deren "Sonderwissen im konkreten Feld Schule institutionell-organisatorisch abgesichert ist" (30). Hierzu zählen Leitungspersonen in kultusministeriell beauftragten Institutionen, Zuständige in Schulbuchverlagen, Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren sowie Mitarbeitende der untersuchten Museen (30f.).
Auf der Ebene der Vermittlungsmedien vergleicht Müller-Zetzsche die Darstellungen der DDR-Geschichte in deutschen Schulbüchern aus den vier genannten Bundesländern mit französischen Geschichtsbüchern, einem deutsch-französischen und einem europäischen Geschichtsbuch sowie französischen Deutschlehrwerken.
Die Untersuchung der Vermittlungspraxis basiert auf teilnehmenden Unterrichtsbeobachtungen in mehrfacher Hinsicht heterogener Gymnasialklassen in Leipzig (dreimonatige Beobachtung einer 9. Klasse im Schuljahr 2013/14), Frankfurt am Main (Beobachtung von zwei Projekttagen einer 10. Klasse im Schuljahr 2014/15) und Paris (Beobachtung einer Doppelstunde in einer Abiturklasse im Schuljahr 2015/16). Der realisierte Unterricht entspricht nur zum Teil den jeweiligen Lehrplanvorgaben und das Schulbuch spielt im Unterrichtskontext neben Filmausschnitten und Bildern keineswegs eine dominierende Rolle, sodass eine analytische Verschränkung der drei Ebenen nur ansatzweise gelingt. Eingebettet wird die Analyse in Interviews mit den Lehrkräften und Gruppendiskussionen mit Lernenden, mit denen die Autorin erschließen will, "was die DDR und die deutsche Teilung für sie und ihre Generation bedeuten" (33).
Das Buch bietet ein interessantes Panorama unterschiedlicher Bedingungsfaktoren, die die Vermittlung von DDR-Geschichte beeinflussen. So gestattet es etwa viele detaillierte Hintergrundinformationen zur musealen Ausstellungskonzeption oder der Schulbucherstellung, wie etwa die Tatsache, dass nur Autorinnen und Autoren aus den Alten Bundesländern an der Schulbucharbeit beteiligt sind (111). Müller-Zetzsche lässt ebenso am Beispiel des Unterrichts in Leipzig die Herausforderungen des Rollenkonflikts lebendig werden, der sich durch die eigene Zeitzeugenschaft der Lehrkraft ergeben kann.
Trotz der mitunter nur punktuellen empirischen Einblicke kommt die Studie zu entscheidenden Ergebnissen. Hervorzuheben ist der Vergleich der intendierten Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich, der darlegt, "in welchem Maße historische Meistererzählungen nationale Bezugspunkte bei der Vermittlung von DDR-Geschichte sind" (354). Während sich in Deutschland im Wesentlichen das "Diktaturgedächtnis" durchgesetzt hat, schlagen in Frankreich Deutungen des roman national durch, sodass etwa die Demonstrationen im Herbst 1989 analog zum Sturm auf die Bastille interpretiert werden. Marie Müller-Zetzsche liefert mit ihrer Untersuchung zahlreiche Argumente, den traditionellen Weg der Vermittlung von DDR-Geschichte als gescheitertes Gegenmodell der BRD als problematisch und wenig zielführend einzuordnen und plädiert für alternative Ansätze. Dabei geht es nicht um Leugnen oder Verharmlosen der repressiven SED-Diktatur, sondern darum, die vierzig Jahre DDR nicht auf den Diktaturbegriff zu reduzieren, da dadurch gerade bei Jugendlichen im Osten spezifische Loyalitätsprobleme zwischen schulischen und familialen Narrativen den Lernprozess behindern. Deshalb erscheint das Plädoyer für andere Ansätze wie eine europäische Geschlechtergeschichte erfolgsversprechender. Wie weit allerdings Generalisierungen wie die Behauptung, dass die "größte Gemeinsamkeit" zwischen Jugendlichen mit Familie aus dem sozialistischen Block durch "eine gemeinsame gewissermaßen ererbte Diktatur- und Umbruchserfahrung" bestünde (361), zutreffend sind, mag nach den fachwissenschaftlichen Einschätzungen zur Unterschiedlichkeit der Diktatur- und Transformationserfahrung in Polen und Ungarn eher fraglich erscheinen. [2]
Das Buch ist nicht nur lesenswert, weil es unterschiedliche Ebenen der Vermittlung in den Blick nimmt, sondern auch, weil viele Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschung aufgezeigt werden. Dazu zählen nicht nur die Herausforderungen der Zeitzeugenschaft ostdeutscher Lehrkräfte oder dass der verstärkte Einsatz von Dokumentarfilmen in den untersuchten Unterrichtsstunden die Bedeutung des Schulbuchs infrage stellt. [3] Zugleich markieren die Kapitel zur Unterrichtspraxis Unterschiede in der deutschen und französischen Unterrichtskultur und geben damit Impulse für den transnationalen Diskurs über das historische Lernen. Zudem ermöglicht der Vergleich mit Frankreich Ansätze für eine Historisierung der DDR in europäischer Perspektive, etwa durch eine Integration in eine transnationale Geschichte der Arbeiterbewegung.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa: Charlotte Bühl-Gramer: Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert - eine Standortbestimmung, in: Thomas Sandkühler u.a. (Hgg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, 31-42, hier insbesondere die Ausführungen zur Kompetenzorientierung, 33f.
[2] Jörg Ganzenmüller: Diktaturerfahrung und Populismus in Spanien, Portugal und Griechenland. Ein Vergleich und eine ostmitteleuropäische Perspektive, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.): Europas vergessene Diktaturen? Diktatur und Diktaturüberwindung in Spanien, Portugal und Griechenland, Köln 2018, 11-24.
[3] Dass es nicht mehr als "Leitmedium" verstanden werden kann, konstatierte Peter Gautschi bereits 2010. Siehe dazu: Peter Gautschi: Anforderungen an heutige und künftige Schulgeschichtsbücher, in: Beiträge zur Lehrerbildung 28, 1 (2010), 125-137, hier 127.
Kathrin Klausmeier