Bernd Stiegler / Felix Thürlemann: Konstruierte Wirklichkeiten. Die fotografische Montage 1839-1900, Basel: Schwabe 2019, 341 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7574-0023-1, EUR 39,00
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Die Autoren Bernd Stiegler und Felix Thürlemann unterscheiden begrifflich zwischen fotografischer Montage im 19. und Fotomontage im 20. Jahrhundert, letztere als typische Technik der Avantgarde (Dadaismus, Konstruktivismus, Kubismus, Futurismus oder Surrealismus). "Das Spektrum der fotografischen Montage reicht im 19. Jahrhundert von der seriösen naturwissenschaftlichen Aufnahme über Scherzbilder mit teilweise drastischer Komik, aber auch von aufwendig erstellten Abzügen, die mit klassischen, akademischen Bildformen konkurrieren sollten, bis hin zu propagandistischen Bildern und Gruppen- und Familienaufnahmen" (10-11). Zusammengetragen ist Ernsthaftes wie Spielerisches aus Wissenschaft, Kunst- und Berufsfotografie, einschließlich ihrer privaten Nutzung. Zur Strukturierung des Bilderkaleidoskops wurde eine gefällige, dingliche Kapitelaufteilung gewählt, in "Gestalt eines Florilegiums, das ein möglichst anschauliches Inventar verschiedenster Beispiele vorstellt" (11). Obwohl betont wird, "die verschollene und verschüttete Geschichte der Fotomontage zu bergen und neu zu entdecken" (8), handelt es sich um sattsam bekanntes und erforschtes Bildmaterial. Einzelne Beispiele wurden tatsächlich noch nicht publiziert, jedoch findet sich Vergleichbares in den zahlreichen Veröffentlichungen und Ausstellungen der letzten Jahrzehnte zur Theorie und Geschichte der Fotografie.
Versammelt sind bekannte Namen wie William Henry Fox Talbot und Anna Atkins mit ihren 'photogenic drawings' oder technische Bildtafeln von Johann Carl Enslen, Hermann Wilhelm Vogel und Hermann Krone, dazu aus einzelnen Aufnahmen zusammengesetzte Panoramen von Giorgio Sommer und Pascal Sébah, des weiteren Charles Nègres Mehrfach-Selbstportrait, Nadars 'portrait tournant' sowie sein in der Geschichte des Mediums als erstes geltendes Fotointerview. Die Spiegel- und Multiportraits sowie Rollendarstellungen des Theaters zeigen die im 19. Jahrhundert entdeckte Vielseitigkeit einer Person bis hin zur Selbstinszenierung von Virginia Oldoini Verasis, der Contessa di Castiglione, als 'tableau vivant' vor der Kamera von Pierre-Louis Pierson. Spätestens hier zeigt sich ein sehr weit gefasster, um nicht zu sagen beliebiger Begriff der Montage, denn jedes fotografische Bild konstruiert seine eigene Realität, die es zu hinterfragen gilt.
Nicht fehlen dürfen Francis Galtons vergleichende physiognomische Studien und Alphonse Bertillons für kriminalistische Untersuchungen angefertigte anthropometrische Tafeln. Für die wissenschaftliche Fotografie stehen die Schneekristalle von Wilson A. Bentley sowie die Bewegungsstudien von Mensch und Tier (Chronofotografie) von Eadweard Muybridge mit der Folge von Einzelaufnahmen und Étienne-Jules Marey mit Mehrfachbelichtungen oder Jules Janssens Langzeitbelichtungen sich bewegender Himmelskörper. Gustave Le Gray kombinierte Negative für seine Wolkenstudien, ein bis ins 20. Jahrhundert wegen fehlender Filmempfindlichkeit notwendiges Verfahren. Thematisiert wird in der vorliegenden Publikation auch das Verhältnis der Fotografie zur Malerei. Julia Margaret Cameron bediente sich der Negativmontage mit künstlerischer Absicht, Oscar G. Rejlander hinterließ Kompositbilder und Henry Peach Robinson schuf Allegorien mittels 'combination prints', die er aus bis zu fünf Negativen zusammensetzte und damit eine Debatte auslöste, inwiefern diese Art Manipulation für das als realitätsgetreu in seiner Abbildung angesehene Medium legitim sei. Der Kampf um die Anerkennung desselben als Kunst beherrschte bis ins 20. Jahrhundert die Szene.
Dem Alltagsgebrauch dienten Scherzbilder, Karikaturen, im Berufsatelier montierte Familien-, Regiments- oder andere Gruppenbilder. Diese Flut fotografischer Portraits wurde seit etwa 1860 ermöglicht durch André Adolphe-Eugène Disdéris Erfindung der Carte de Visite und später der etwas größeren Kabinettkarte, die in sogenannten Einsteckalben arrangiert wurden. Stereofotografie wird für die Autoren als montierte Zeit zum Vorläufer des Films. Am Ende des Buches scheint die Entwicklung auf mit George Méliès surreal angehauchtem Kurzfilm L'Homme à la tête de caoutchouc aus dem Jahr 1901. "Der Kinofilm war [...] der erste und eigentliche Erbe der Fotomontage des 19. Jahrhunderts." (329) Bereits Muybridge hatte mit seinem 1879 entwickelten Projektionsgerät, dem sogenannten Zoopraxiskop, die einzelnen Aufnahmen auf einer Leinwand in einen Bewegungsablauf versetzt und mit seinem 1887 veröffentlichten Werk Animal Locomotion Künstler wie Marcel Duchamp oder Francis Bacon beeinflusst.
Die Autoren wollen nicht die technische 'Grammatik' der Fotomontage in den Mittelpunkt stellen, sondern die "Geschichte der fotografischen Montage [...] anhand ihrer 'Semantik', d.h. der verschiedenen Anwendungsbereiche und der unterschiedlichen Funktionen, die ihr dabei zukommt" (11) rekonstruieren. Thürlemanns Forschungsgebiet ist die visuelle Semantik. Inwiefern das Übertragen sprachlicher Metaphern auf die Theorie der Fotografie jedoch sinnvoll ist, wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Vermieden wird eine für Fotografiegeschichtsschreibung längst obsolet gewordene klassische kunsthistorische Gattungseinteilung, stattdessen subsumieren die Kapitel das Bildmaterial unter folgenden Begriffen: Montierte Natur, Dinge, Räume, Menschen, Gesellschaften, Welt/Kunst, Zeit und Erscheinungen, Montagebeispiele, Anhang (Objekt-, Negativ-, Positiv- und optische Montage, Arrangement in Tableaus und Sequenzen, multimediales Zusammenspiel der Fotografie mit traditionellen Bildmedien). Es geht um die Erscheinungsebene von "Familienähnlichkeiten" oder auch "funktionaler Verwandtschaften" der Bilder (11) und entsprechend wird nicht zwischen Gebrauchs- und künstlerischer Fotografie unterschieden. Diesem nivellierenden Ansatz mit seiner Fokussierung auf das Bildhafte dürfte auch das fehlende Namensregister geschuldet sein. Montage wird zu sehr als Formalie aufgefasst. Wünschenswert wären eine stärkere Berücksichtigung des Verwendungszusammenhangs im Sinne von Pierre Bourdieus sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie sowie eine Interpretation der gestalterischen wie künstlerischen Absichten der Produzierenden und der entsprechenden Rezeption.
Im Spiel des 19. Jahrhunderts mit dem "Realitätseffekt des neuen Mediums" (10) bietet das "Bilderbuch" (12) für allgemein Interessierte einen guten und auch amüsanten Überblick zur Kulturgeschichte der fotografischen Montage im 19. Jahrhundert. Erzählt werden "viele kleine Geschichten" (11), ansprechend geschrieben und ohne Anmerkungsapparat auskommend. So attestieren die Autoren Cameron etwa ein "fern fever" (27) in ihren frühen Bildern, in denen Farne nach dem Prinzip der fotogenischen Zeichnung ein Portrait einrahmen. Der Vierfarbendruck (allerdings etwas zu dunkel) wird dem Bildmaterial gerecht, gerade auch den Sepiatönen der Fotografie des 19. Jahrhunderts. Sinnvoll ist der Einbezug etwaiger Rahmen und Ränder. Die Einführung zu Beginn des Buches legt vielfältige Bezüge dar. Überschaubare Kapitel, mit eingestreuten Abbildungen einschließlich Bildunterschriften (Fotografin und Fotograf, Titel, Datierung), kursiv gesetzter Einleitung und Zwischenüberschriften erlauben eine anregende und angenehme Lektüre in beliebig gewählter Reihenfolge. Die verwendete Literatur steht am Ende des jeweiligen Kapitels, die Abbildungsnachweis am Schluss der Publikation, ein Index fehlt.
Gabriele Betancourt Nuñez