Rezension über:

Hannes Liebrandt / Michele Barricelli (Hgg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland (= Forum Historisches Lernen), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, 239 S., ISBN 978-3-7344-0925-7, EUR 29,90
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Rezension von:
Christa Schikorra
KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Christa Schikorra: Rezension von: Hannes Liebrandt / Michele Barricelli (Hgg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 2 [15.02.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/02/34607.html


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Hannes Liebrandt / Michele Barricelli (Hgg.): Aufarbeitung und Demokratie

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Bereits vor mehr als 60 Jahren konstatierte Theodor W. Adorno, "dass Verdrängung, Leugnung und Verkleinerung der Verbrechen die häufigsten Umgangsformen mit der Vergangenheit darstellten". Daraus folgerte er die konzise Einschätzung zu einer zu entwickelnden Praxis der Aufarbeitung, für die weder rein moralische Vorwürfe helfen würden, noch die bloße Erweiterung des Faktenwissens, und auch nicht die rein drastische Veranschaulichung des Entsetzlichen. So die beiden Herausgeber in ihrem Einführungstext "Vom change of heart zu den Grundlagen verantwortlichen Handelns in der lernenden Demokratie" (15). Liebrandt und Barricelli konstatieren, dass aus heutiger Sicht, es möglich sein müsse, "fachliches Lernen mit einer werteorientierten kulturellen, ästhetischen und sozialen Bildung zu verbinden" (26). Für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus fordern sie subjektorientierte Bildungskonzepte (23).

Wie diese aussehen können, wird mit den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes zur Debatte gestellt. Die Texte gehen zurück auf eine Fachtagung, die bereits 2015 von der Ludwig-Maximilian-Universität München in Kooperation mit der Georg-von-Vollmar-Akademie veranstaltet wurde. Der umfängliche Titel der Tagung "70 Jahre zwischen Aufklärung und Verklärung, erinnern und vergessen. Determinanten der historisch-politischen Aufklärung des Nationalsozialismus im bildungspolitischen Diskurs" gibt Hinweise sowohl auf den thematischen Umfang wie das fachliche Spektrum der Beitragenden.

Der Tagungsband umfasst neben dem einleitend verfassten Text der Herausgeber elf Beiträge, die in drei Themenbereichen präsentiert werden. Im ersten Kapitel "Geschichts-/Erinnerungskultur" liegt der Fokus auf Gedenk- und Erinnerungsorten. Das zweite Kapitel "Schule und Bildung" widmet sich geschichtsdidaktischen Überlegungen, wohingegen das schmalere dritte Kapitel "Die politische Perspektive" lediglich zwei Beiträge aus Sicht der politischen Bildung beinhaltet.

Stefan Benz widmet sich in seinem Aufsatz "Onno Klopp statt Heinrich von Treitschke? Die Überlegungen zur 'Revision' der deutschen Geschichtsschreibung unmittelbar nach 1945" einer Analyse der Geschichtsrevision, in dem er ausgehend von einer Begriffsklärung der Revision die zeitgenössisch formulierten Kategorien von Geschichtsbild und Geschichtsdenken betrachtet. Dabei fokussiert Benz den Geschichtsunterricht in Bayern unter Einfluss der Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit und nimmt die Bedeutung der Geschichtsrevision für die Geschichtswissenschaft insgesamt in den Blick.

Bernhard Schoßig stellt in einem Längsschnitt die Entwicklung außerschulischer Bildung verschiedener Akteure vor. Die Betrachtung eines über 70 Jahre andauernden Engagements zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen mündet für den Autor in die heutige Gedenkstättenarbeit, die er am Beispiel der KZ-Gedenkstätte Dachau einbezieht.

Wolfgang Benz und Hannes Liebrandt markieren in ihren Aufsätzen jeweils historische Orte im urbanen Raum: "Gedenkort Berlin: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus im öffentlichen Raum" und "München: Von der 'Hauptstadt der Bewegung' zum Gedenk- und Erinnerungsort". Für die beiden Städte werden jeweils über die Zeitläufe hinweg, sowohl die Themen wie auch Arten der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur anschaulich dargestellt. Geprägt durch verschiedene Dekaden und Akteurs-Generationen und zum Teil aufeinander aufbauende, manchmal auch divergierende Debatten sind die Ausdruckformen wie auch der Impetus zur Vermittlung sehr unterschiedlich. Deutlich wird, dass Denkmalsetzungen oder Informationstafeln bis in die 1980er Jahre nun seit der Jahrtausendwende von umfänglichen Dokumentationszentren mit entsprechenden Ausstellungen und Bildungsangeboten ergänzt worden sind. Nicht nur eine Ausdifferenzierung des Gedenkens und der Erinnerung ist feststellbar, sondern auch eine qualitativ veränderte Praxis der Vermittlung mit handlungs- und problemorientierten Zugängen.

Barbara Hanke widmet sich in ihrem Beitrag "Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als Filmsujet. Von Die Mörder sind unter uns bis Im Labyrinth des Schweigens" dem Medium Film, dem sie zuschreibt sich bereits sehr früh mit der Aufarbeitungsgeschichte beschäftigt zu haben. Neben einem Überblick der Aufarbeitung der NS-Geschichte im Spielfilm stellt sie die Behandlung der drei Komplexe "Kontinuitäten", "Täter und Opfer" sowie den "Holocaust" ins Zentrum ihres Textes. Auch wenn die betrachteten Filme in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten entstanden sind, kommt sie zu dem Befund, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit jeweils gegeben sei.

Der zweite Teil des Bandes "Schule und Bildung" präsentiert mehrheitlich schulische und geschichtsdidaktische Fragen und Zugänge. Ulrich Baumgärtner betrachtet in seinem Aufsatz "Nationalsozialismus und Schule. Normative Vorgaben und geschichtsdidaktische Perspektiven" die Bedeutung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht seit 1945. Dass diese Zeit auch in der Gegenwart eine Relevanz hat, ist nicht nur dadurch gegeben, dass ihre Geschichte gesellschaftlich konstitutiv für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern wesentlich seien in geschichtsdidaktischer Perspektive die gewählten Zugänge, die Art der Strukturierung und die Formen des Lernens (148).

Felix Hinz geht der Frage nach, warum bestimmte Verbrechenskomplexe des NS-Staates im deutschen Geschichtsunterricht ein Schattendasein führen. In seinem Beitrag "Zuviel Auschwitz verstellt den Blick. Der 'Kreuzzug gegen den Bolschewismus' und der 'Generalplan Ost' sind in deutschen Geschichtsbüchern unterrepräsentiert" behandelt er ausführlich inhaltliche Aspekte, denen sich eine Schulbuchanalyse anschließt, die letztlich die marginalisierte Behandlung des Themas bestätigt. Dass die auf Osteuropa gerichteten nationalsozialistischen Vernichtungspläne nicht nur in der Sphäre des historischen Wissens bedeutsam sind, machen die aktuellen Debatten um ein Dokumentationszentrum der deutschen Besatzungsherrschaft in (Ost-)Europa deutlich.

Schulgeschichtsbücher stehen auch im Mittelpunkt der transnationalen Analyse von Philipp Mittnik. "Opfer- und Täterdarstellungen des Nationalsozialismus in deutschen und österreichischen Geschichtsschulbüchern im diachronen Vergleich" nehmen die Schulpraxis für das Fach Geschichte in der Sekundarstufe I als Ausgangspunkt. Mit seiner Studie gelingt es ihm, vor allem Defizite zu benennen. Nicht nur werden Opfergruppen unvollständig benannt und sind Täter und Täterinnendarstellungen kaum vorhanden, die Darstellungen in den Schulgeschichtsbüchern entwickelten unreflektierte Narrative (185). Der Autor fordert mit dem Gegenwartsbezug als geschichtsdidaktischem Prinzip den Aspekt des politischen Lernens im Gesichtsunterricht zu stärken.

Abschließend für dieses Kapitel widmet sich Josephine Peller einem gesellschaftlichen Problem. "'Du, Jude!' - Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen. Eine (geschichts-)didaktische Herausforderung". Ohne judenfeindliche Tendenzen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu verharmlosen identifiziert sie anhand studiengesättigter Analysen Strukturen alten und neuen antisemitischen Denkens. Oftmals entpuppe sich der vermeintliche Antisemitismus als ein Akt der Konfliktverschiebung, als eine Projektionsfläche subjektiver Unrechtserfahrungen (194). Peller formuliert die Notwendigkeit, die traditionelle 'Wir'- und 'Ihr'-Separierung aufzugeben, und statt diskursiver Ausgrenzungspraktiken eine kollektive Teilhabe im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Partizipation zu ermöglichen (197). Inwieweit die von ihr dezidiert formulierten "Ansätze zur didaktischen Gegensteuerung" (194) nicht nur Impulse setzen, sondern im Lernarrangement von Schulunterricht zur Geltung gebracht werden können, bleibt zu klären.

Nach der ausführlichen Berücksichtigung von Schule im zweiten Teil des Sammelbandes ist der dritte Teil "Die politische Perspektive" mit lediglich zwei Beiträgen leider etwas unterrepräsentiert. Frank Decker diskutiert in seinem Beitrag "Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und die Neue Rechte" aus politikwissenschaftlicher Perspektive Erscheinungsformen solcher Bewegungen, widmet sich den Wechselwirkungen innerhalb des rechtsextremistischen Lagers und postuliert zum Schluss des Beitrags Bekämpfungsstrategien im Umgang mit Rechtsextremisten und Rechtsextremistinnen im europäischen Vergleich. Befragt werden Abgrenzung versus Anpassung, Distanz versus Dialog und Auseinandersetzung. Decker schließt mit der Forderung der Wandelbarkeit der repräsentativen Demokratie, die "eine Kultur des Zuhörens und Aufeinanderzugehens" benötige (223).

Der Text von Markus Gloe kann quasi als Kommentar des Sammelbandes verstanden werden. "Holocaust Education - Demokratielernen - Menschenrechtsbildung. Ein Kommentar aus Sicht der politischen Bildung" stellt verschiedene Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Mittelpunkt: den Wandel in der Zielgruppe, der Zugänge und der Rahmenbedingungen. Vor dem Hintergrund eines erstarkenden Populismus und eines anhaltenden Antisemitismus sieht Gloe als Notwendigkeit für die historisch-politische Bildung Empathie, Urteilsvermögen und Gerechtigkeitsempfinden herauszubilden. Eine starke Vernetzung der verschiedenen Akteure in der Vermittlung ist ebenso von Nöten wie eine entschiedene interdisziplinäre Zusammenarbeit (235).

Die Forderung, die Erinnerung an den Nationalsozialismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wachzuhalten (Liebrandt,116), reicht nicht aus. Nicht das 'ob', sondern das 'wie' ist nicht nur, aber insbesondere in dem Feld der Geschichtsdidaktik entscheidend. Im Zentrum stehen dabei die Adressaten und Adressatinnen und ihre Lebenswelten: die Schüler und Schülerinnen, die Besucher und Besucherinnen, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Wenn Demokratie gestärkt werden soll, sind Lernen und Aufarbeitung nicht ausreichend, sondern Teilhabe und Aneignung sind wesentliche Elemente für die Entwicklung eines kritischen Geschichtsbewusstseins.

Christa Schikorra