Jessica Bock: Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980-2000 (= Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands; Bd. 6), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2020, 460 S., 13 s/w-Abb., 1 Tbl., ISBN 978-3-96311-395-6, EUR 48,00
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"Frauen rein in die Politik! Frauen rein in die Schaltstellen der Macht!" (316) Mit diesem Aufruf wandte sich die Fraueninitiative Leipzig im Herbst 1989 an die Bewohnerinnen der Stadt. Frauenbewegte Aktivitäten gab es in Leipzig aber nicht nur zur Wendezeit, sondern auch davor und danach, wie Jessica Bock in ihrer die Zäsur von 1989/90 überspannenden Studie zeigt. Ziel der Dissertation ist es, eine Lücke in der jüngsten Stadtgeschichte zu schließen, in der die Analysekategorie Geschlecht und Frauengruppen als Untersuchungsgegenstand bisher kaum eine Rolle spielten.
Zu diesem Zweck greift die Autorin auf Archivquellen sowie auf 35 Interviews mit Gründerinnen und langjährigen Mitgliedern der Frauengruppen zurück. Nach einem Überblick über die Frauenpolitik in der DDR der 1970er und 1980er Jahre folgen drei Hauptkapitel zur Entwicklung der Leipziger Frauengruppen: Das erste behandelt den Zeitraum zwischen 1980 und 1989, das zweite die Phase der Revolution und das dritte die 1990er Jahre.
Als Priorität der SED-Frauenpolitik benennt Bock, dass Frauen und Männern gleichermaßen einer Erwerbsarbeit nachgehen sollten. Jedoch blieben Phänomene wie die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes oder die 'gläserne Decke' weiterhin bestehen. Auch in anderen Bereichen herrschten patriarchale Verhältnisse: Während Hausarbeit vor allem eine weibliche Aufgabe blieb, wurden politische Spitzenpositionen beinahe ausschließlich von Männern besetzt.
Einen frauenpolitischen Paradigmenwechsel von der beruflichen Förderung zur Geburtenförderung datiert die Autorin auf die frühen 1980er Jahre, nennt aber gleichzeitig das 1976 eingeführte Babyjahr als wichtige Maßnahme in diesem Zusammenhang. Inhaltlich unscharf bleiben auch die Ausführungen zum Schwangerschaftsabbruch: Zitiert wird eine Zeitzeugin, die angibt, dass "'72 im Westen die Fristenregelung'" galt (47) und dies als Auslöser für die Einführung der Fristenregelung in der DDR wertet. Ein Hinweis, dass diese Aussage nicht der Faktenlage entspricht - eine Fristenregelung gab es in der Bundesrepublik weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt - fehlt jedoch.
Im nächsten Kapitel zu den in den 1980er Jahren in Leipzig gegründeten Frauengruppen arbeitet Bock eine Reihe von Gemeinsamkeiten heraus: Alle Gruppen gingen aus freundschaftlichen Beziehungen hervor, wobei bei den meisten Mitgliedern eine "kritische Distanz oder gar auch Ablehnung des Feminismus-Begriffs westlicher Prägung" (217) festzustellen war. Die Gruppen fungierten außerdem als "Kommunikations- und Sozialisationsraum" (219), in dem die Frauen die Kluft zwischen staatlichem Gleichstellungsideal und Alltagswirklichkeit thematisierten. Dementsprechend zogen sie auch das Missfallen der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit auf sich, das zum Teil auch mit geheimpolizeilichen Maßnahmen reagierte.
Zu einem fundamentalen Wandel in der nichtstaatlichen Frauenbewegung in Leipzig kam es 1989: Bereits im Spätsommer dieses Jahres verloren die zu DDR-Zeiten gegründeten informellen Frauengruppen an Relevanz, da sich ihre Mitglieder den neu entstandenen Bürgerrechtsgruppen zuwandten. Obwohl dort grundsätzlich ein "Mangel an Sensibilität für die Geschlechterverhältnisse und die Belange der Frauen" (224) herrschte, entwickelte sich das Leipziger Neue Forum "zum Nukleus des lokalen Frauenaufbruchs." (235) Seine weiblichen Mitglieder sahen anfangs nicht nur die Chance für demokratische, sondern auch für frauenpolitische Veränderungen.
Am 22. November 1989 gründete sich die Fraueninitiative im Neuen Forum, die als eine zentrale Forderung die "Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse" (254), zum Beispiel mithilfe von Frauenquoten, vertrat. Diese und andere Standpunkte waren aber nicht mit der Politik des Neuen Forums vereinbar, aus dem die Fraueninitiative Leipzig bereits im Januar 1990 wieder austrat. Trotzdem gelang es den Aktivistinnen - anders als den Frauengruppen in den 1980er Jahren -, zumindest ein geringes Maß an politischem Einfluss zu gewinnen: Bei den Kommunalwahlen im Mai 1990 trat die Fraueninitiative Leipzig als eigenständige Gruppierung an. Sie errang ein Mandat und bildete zusammen mit den Grünen eine Fraktion.
Dass die Fraueninitiative Leipzig auch über die Revolution hinaus ein sichtbarer Akteur blieb, zeigt Bock in ihrem Kapitel über die 1990er Jahre. Der mit der Revolution einsetzende Institutionalisierungsprozess bedeutete nicht das "Ende der [Leipziger] Frauenbewegung und deren Entpolitisierung" (419), sondern half dabei, politische Forderungen, zum Beispiel die nach einem Frauenschutzhaus, auch tatsächlich durchzusetzen. Außerdem stellte die Institutionalisierung keine bloße Anpassung an die westlichen Strukturen dar: Sie geschah nicht nur vor dem Hintergrund einer völlig anderen Vorgeschichte, sondern sie war auch von den Akteurinnen hart erkämpft worden.
Am Ende ihrer Erläuterungen zu den 1980er und 1990er Jahren identifiziert die Autorin eine Reihe von (Dis-)Kontinuitäten: Eine Kontinuität war, dass sich die Leipziger Frauenbewegung zwar für die westdeutsche Frauenbewegung interessierte, diese aber nicht nachahmen wollte. Außerdem setzten viele der in den 1980er Jahren aktiven Frauen ihr Engagement auch in den 1990er Jahren fort, wobei nun nicht vor allem Freundinnen und Bekannte, sondern auch viele einander nicht näher bekannte Aktivistinnen zusammenarbeiteten. Hinzu kam, dass einige Frauen auch hauptberuflich für die Gruppen tätig wurden. Insgesamt ging die Zahl der Aktivistinnen aber zurück, so dass sich viele Frauenvereine Ende der 1990er Jahre auflösten.
Bocks Studie bietet ein differenziertes Bild der Leipziger Frauengruppen und zeichnet sich vor allem durch ihren transformationsgeschichtlichen Zuschnitt aus. Insbesondere die Interviews mit den Zeitzeuginnen ermöglichen es der Autorin, anschauliche und detailreiche Einblicke in das Innenleben der Frauengruppen zu geben. Innerhalb der Hauptkapitel, von denen zum Beispiel das erste auf mehr als 100 Seiten die Aktivitäten von sieben Gruppierungen beschreibt, hätten einige Straffungen die Stringenz und die analytische Aussagekraft der Studie verbessert. Insgesamt zeigt die Studie, wie die Erforschung der jüngsten ostdeutschen Zeitgeschichte gelingen kann: Zum einen ist es von Vorteil, eine die Zäsur von 1989/90 übergreifende Perspektive einzunehmen. Zum anderen ist es wichtig, sich von eindimensionalen Betrachtungsweisen zu distanzieren, zum Beispiel vom Topos der "Wendeverliererin".
Eva Schäffler