Michael Gehler: From Saint Germain to Lisbon. Austria's Long Road from Disintegrated to United Europe 1919-2009. Translated from the German by Philip Isenberg (= Internationale Geschichte / International History), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2020, 1287 S., ISBN 978-3-7001-8232-0, EUR 175,00
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Jenseits von Habsburg scheint es in vielen - auch europäischen - Ländern nur wenig zu geben, das nennenswertes Interesse an der österreichischen Geschichte weckt. Das kann man bedauern und auch erklären. Eine Erklärung ist, dass wie in den Naturwissenschaften vor allem englischsprachige Bücher Verbreitung finden. Diesem Schluss folgte auch die Österreichische Akademie der Wissenschaften, die das 2009 erschienene Werk Michael Gehlers über Österreichs Weg in die Europäische Union ins Englische übertragen ließ. Gehler, damals noch Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung an der Akademie der Wissenschaften, hat für die englische Version eine Zusatzleistung vollbracht, um der Historikerzunft außerhalb Österreichs ein Werkzeug an die Hand zu geben: Er fügte dem Textband einen umfangreichen Dokumententeil bei und frönte zudem seinem ausgeprägten Hang, die penible Darstellung mit einem Anmerkungsapparat zu versehen, der die Arbeit zu einem Steinbruch für Historiker, historisch Interessierte und die Verfasser von Plagiaten werden lassen dürfte. Denn wer immer den Band in die Hand nimmt, ist nicht nur mit Quellen-, sondern auch Literaturhinweisen bestens versorgt. Ein großes, ein nützliches Werk.
Gehler beginnt den Weg Österreichs in die Europäische Union mit einem Rückgriff auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Bei der Gelegenheit lässt sich schon einmal etwas zurechtrücken, das nur zu leicht vergessen wird: Das habsburgische Österreich war länger in Brüssel präsent als in Sarajevo. Letzteres hat ihm freilich kein Glück gebracht.
In der Folge geht Gehler jeder Spur nach, die deutlich macht, wie sehr man in Österreich schon nach dem Ersten Weltkrieg bemüht war, die von vielen auf eine Pseudoexistenz zurückgeführten Probleme dadurch zu überwinden, dass das Land wieder Teil eines größeren europäischen Ganzen würde. Da trafen sich alle möglichen Ideen, ob sie von Richard Coudenhove-Calergi, Ignaz Seipel, aber auch Politikern anderer Nachfolgestaaten Altösterreichs geäußert wurden. Ein Zusammenschluss Mitteleuropas wurde als bester Weg gesehen, Kleinheit zu überwinden, aber auch der Übermacht anderer Staaten zu widerstehen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt jedoch auf der Zeit von den späten 1940ern bis zum Jahr 2000. Gehlers Darstellung wird immer dichter, da sich europäische Fragen mehr und mehr mit der Existenz und mit Handlungsweisen Österreichs verknüpfen ließen. Dabei kam dem Staatsvertrag von 1955, der das Ende der alliierten Besetzung Österreichs brachte, enorme Bedeutung zu. Der Abzug der Besatzungsmächte und die Erklärung der immerwährenden Neutralität Österreichs hatten nicht nur Auswirkungen auf das österreichische Selbstverständnis, sondern vorrangig auch auf die internationale Stellung des Landes. Viele, vor allem die NATO-Staaten, taten sich nicht leicht mit dem kleinen Neutralen. Die Neutralität hatte auch in Österreich nicht nur Befürworter, denn damit schien die Möglichkeit zu schwinden, an der europäischen Einigung teilzunehmen. Eine, wie sich schon ein Jahr später herausstellte, irrige Annahme. Ebenso kamen vor allem westeuropäische Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland mit der Neutralität wenig zurecht. Man befürchtete, Österreich würde ein Präzedenzfall sein und von der Sowjetunion als eine Art Köder eingesetzt werden, um im Weg der Neutralisierung einzelner Mitglieder die NATO nachhaltig zu schwächen. Eine unnötige Furcht. Für Österreich aber begann mit dem Beitritt zum Europarat 1956 wie 1957 mit der Mitgliedschaft in der EFTA (European Free Trade Area) die etappenweise Annäherung an europäische Institutionen. Hindernisse gab es dabei auch.
Das unabhängige und neutrale Österreich machte nicht nur den erwähnten Staaten zu schaffen, sondern auch und vor allem Italien, das bei der Erfüllung der schon 1946 vertraglich fixierten Autonomieregelung für Südtirol säumig geworden war. Der daraus entstehende Konflikt hatte Auswirkungen für beide Seiten. Italien wurde von Österreich unter Druck gesetzt, da die UNO-Vollversammlung 1960 beide Staaten aufforderte, eine Verhandlungslösung zu finden. Da die dann schon fast ausgehandelte Lösung durch terroristische Aktionen von Südtiroler Aktivisten zu hintertreiben versucht wurde, blockierte Italien 1967 die Bemühungen Österreichs um einen Assoziierungsvertrag mit der EWG.
Es ging aber nicht nur um Bilaterales. Denn was im Zeitraum von 1955 bis in die 1980er Jahre deutlich wurde, war ein aufwändiges Beziehungsgeflecht, das sich über Jahrzehnte erhielt. Die Sowjetunion verhinderte den Beitritt Österreichs zur EWG und setzte dazu erfolgreich staatsvertragliche Verpflichtungen ebenso wie die Neutralität ein. Die der NATO zugehörenden EWG-Staaten wiederum waren letztlich ganz froh, nicht womöglich einen (weiteren) Neutralen aufnehmen zu sollen, der nicht nur das Gefüge stören konnte, sondern auch durch seine geringen Verteidigungsanstrengungen eine regelrechte Schwachstelle im westlichen Verteidigungsbündnis dargestellt hätte.
Gehler verfolgt jeden einzelnen Schritt der Annäherung, der Ablehnung und neuerlichen Annäherung mit einer enormen Liebe zum Detail. Die Darstellung gipfelt in den 1980er Jahren, als sich durch die Veränderungen im östlichen Bündnis für Österreich die Chance ergab, den bis dahin unüberwindlich scheinenden Widerstand der Sowjets zu überwinden. Das formelle Ersuchen um Aufnahme von Verhandlungen über einen Vollbeitritt Österreichs zur EG wurde schließlich 1989 noch vor der sogenannten samtenen Revolution in Zentraleuropa abgesandt. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow war damit einverstanden, der Rest der sowjetischen Führung nicht. Doch dann kam die Zeitenwende. Und plötzlich schien abermals eine Umkehr der gewohnten Sichtweisen die Folge. Nun waren es nicht mehr die Sowjets, die ihr Njet in die Waagschale warfen, sondern Belgier, Franzosen und Briten. Nicht dauerhaft, wie man weiß, doch regelrecht irritierend. Immer wieder wurde Österreich argwöhnisch beäugt, wenn es Handlungen setzte, die nicht in das bis dahin geltende EU-Schema passten. Das war vor allem zur Zeit des Kriegs in Slowenien 1991 der Fall. Doch nach jahrelangen Verhandlungen kamen die Beitrittsgespräche 1994 zu einem positiven Abschluss. Bei der Aufnahme Österreichs in die EU schwang wohl die Überlegung mit, dass gerade Österreich auf Grund seiner historischen Rolle und seiner Erfahrungen eine wichtige Funktion bei der Eingliederung weiterer ostmittel- und südosteuropäischer Staaten spielen könnte. Wie sich zeigte, übersprangen diese Staaten die österreichische Barriere, sie ignorierten die Avancen, zu Bildung eines östlichen Blocks, denn was Ungarn, Tschechien und Polen weit wichtiger war als die EU, war die Mitgliedschaft in der NATO. Da konnte Österreich nicht behilflich sein.
Die verfassungsmäßig notwendige Volksabstimmung über den Beitritt erbrachte in Österreich eine knappe Zweidrittelmehrheit; ab 1. Januar 1995 konnte man sagen, dass ein unendlich langer Weg zu Ende gegangen war. Mittlerweile hatte sich Vieles verändert. Aus einem Staat, der seine Überlebensfähigkeit jahrelang in Zweifel gezogen und den Anschluss an Deutschland als die Lösung seiner Probleme gesehen hatte, der nach 1938 für die weitere Expansion NS-Deutschlands so etwas wie die kritische Masse darstellte, war nicht zuletzt unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe ein Land geworden, das immer fester Fuß fasste und ein schließlich schon übersteigertes Selbstbewusstsein und grenzenlosen Patriotismus an den Tag legte. Beides kam nicht zuletzt dann zur Geltung, wenn man - wie andere Staaten der EU auch - mit Entscheidungen aus Brüssel nicht einverstanden war.
Doch wie es sich zeigte, war das Erreichte irreversibel. An einem Gegensatz kam man aber weiterhin nicht vorbei: Österreich war zwar bereit, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU mitzutragen. Es war auch bereit, eine Verfassung, unter welchem Begriff auch immer, zu akzeptieren. Einen direkten Eingriff in das politische Gefüge, wie er seitens der sogenannten EU-14 im Jahr 2000 praktiziert wurde, als Österreich wegen einer den anderen Partnern nicht genehmen Regierungskoalition unter Quarantäne gestellt wurde, wollte man nicht akzeptieren. Die EU zeigte sich irritiert; Österreich zeigte sich verstört. Beide lieferten ein Beispiel dafür, dass der Umgang unter nicht immer einfachen Bedingungen gelernt werden wollte. Und beide waren, wie Gehler klar zeigt, lernfähig.
Manfried Rauchensteiner