Jürgen Peter Schmied (Hg.): Kriegerische Tauben. Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte; Bd. 15), Göttingen: V&R unipress 2019, 206 S., ISBN 978-3-8471-0974-7, EUR 40,00
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Dieser Sammelband thematisiert mit neun 2015 an der Universität Bonn gehaltenen Vorträgen ein Kernproblem der internationalen Beziehungen: das Verhältnis zwischen physischer Macht und Recht, zwischen militärischer Gewalt und werteorientierter Außenpolitik. Er greift damit ein Thema auf, das auf das Zeitalter der Aufklärung zurückgeht, das deutsche Historiker schon in der Ära der beiden Weltkriege gefesselt hat und das heute besonders aktuell geworden ist, wenn es die jüngere Forschung auch im Gefolge modischer turns eher vernachlässigt hat. Umso begrüßenswerter ist es daher, dass dieser Band an neun Fallbeispielen untersucht, wie liberale Politiker auf zwischenstaatliche Krisensituationen reagiert haben.
Wie Herausgeber Schmied einleitend ausführt, lag der Ursprung der Problematik im aufklärerischen Glauben, dass Demokratien, im Gegensatz zu Monarchien, zu offensiver militärischer Gewalt gar nicht imstande seien und so einen dauerhaften Frieden garantierten. Bekanntlich trog diese Hoffnung. Die Aufsatzsammlung analysiert dieses Paradox von der amerikanischen Revolution bis in unser "Zeitalter der Werte", in dem eine "responsibility to protect" "den Waffengang aus humanitären Gründen in den Rang einer moralischen Pflicht" erhoben hat (23).
Einführend untersucht Dieter Langewiesche das Verhältnis von Liberalen zum Krieg im 19. Jahrhundert. Er beruft sich dabei auf Kant und dessen Eingeständnis, dass die Menschheit auf ihrem langen Weg zu einer gewaltfreien "weltbürgerlichen Gesellschaft" (25) immer wieder aus - auch kriegerischen - Irrwegen lernen müsse. Tatsächlich habe das 19. Jahrhundert erwiesen, dass die Begründung modern-parlamentarischer Nationalstaaten in aller Regel von Kriegen begleitet war.
Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg lieferte dafür ein Beispiel. Jasper M. Trautsch zeigt anhand Thomas Jeffersons, dass die amerikanischen Gründerväter zwar auch zwischen friedlichen Republiken und kriegslüsternen Monarchien unterschieden, sich im gleichen Atemzug aber ein außenpolitisches Fernziel setzten, das nur mit militärischen Mitteln erreicht werden konnte: nichts weniger als die "Befreiung" und Einbeziehung des gesamten nordamerikanischen Kontinents einschließlich Kubas in ein "Empire of Liberty" (38). Erst die Vertreibung der britischen Kolonialmacht aus ganz Nordamerika, so Jefferson, werde die USA aus den europäischen Konflikten heraushalten. Dieses Programm hatte zwei Schönheitsfehler - die amerikanischen Ureinwohner gehörten nicht zum neuen "Imperium der Freiheit", und dieses selbst erschien erst dann als wirklich gesichert, wenn sich die friedlich-republikanische Staatsform auch in der Alten Welt durchgesetzt hätte. Jefferson und die Seinen, so Trautsch, lieferten so das Vorbild für die spätere US-Forderung nach weltweitem Demokratieexport.
Als europäische Vertreter eines liberalen Imperialismus werden William E. Gladstone und David Lloyd George von Wolfgang Egner bzw. Andreas Rose gewürdigt. Gladstone verfocht die moralische Mission seines Landes, "unzivilisierte" Gebiete im Osmanischen Reich wie z. B. Ägypten durch "gerechte Kriege" von ihren "Despoten" zu befreien. Ägyptische Nationalisten forderten aber auch die Beseitigung der ihnen auferlegten anglo-französischen Finanzkontrolle, was beide europäischen Mächte ablehnten - eine Kontroverse, die 1882 in der Besetzung des Landes durch britische Truppen mündete. Gladstones zivilisatorisches Missionsstreben endete in militärischer Konfrontation.
David Lloyd George war als radikal-liberaler Kritiker des britischen Burenkriegs bekannt geworden. In der Julikrise 1914 befürwortete er jedoch den Eintritt seines Landes in den Ersten Weltkrieg und berief sich dabei auf Deutschlands völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien. Rose hinterfragt diese moralische Rechtfertigung Lloyd Georges. Mit archivalischen Zeugnissen weist er nach, dass es diesem Vollblutpolitiker weniger um die Verteidigung des Völkerrechts gegangen sei als um die Wahrung der Geschlossenheit der liberalen Regierungspartei - ein taktisch-innenpolitisches Kalkül also, das seinem Votum für den britischen Kriegseintritt zugrunde lag.
Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verkörpert wie kein anderer Politiker das Dilemma zwischen Verfolgung ethischer Ziele und Anwendung kriegerischer Machtmittel. Der entschiedene Calvinist verurteilte den europäischen Imperialismus, bemühte sich um neutrale Vermittlung zwischen den Parteien des Ersten Weltkriegs und verfolgte dabei globale Ordnungsziele, wie Manfred Berg ausführt. Die deutsche Erklärung eines unbeschränkten U-Boot-Kriegs im Februar 1917, der auch zu Versenkungen amerikanische Frachtschiffe führte, durchkreuzte Wilsons Konzept - ein "Frieden ohne Sieg" war unmöglich geworden. Erst ein mit amerikanischer Hilfe erfochtener Totalsieg über Deutschland und seine Verbündeten konnte einen maßvollen Frieden ermöglichen, der die Katastrophe eines abermaligen Weltkriegs verhindern sollte. Wilson begründete seinen Kriegsentschluss mit dem Wunsch nach "Befreiung der Völker", um so die "Welt für die Demokratie" "sicher zu machen"; damit stand er ganz in der Tradition des liberalen Kriegsverständnisses. Wilsons Kriegsziel, das allein die Opfer rechtfertigte, blieb ein universaler werteorientierter Völkerbund. Dass er als "Assoziierter" der Ententemächte mit dem Krieg auch deren imperialen Ziele zu verwirklichen half, verdrängte er noch beim Abschluss des Friedens von Versailles. Trotz seines schließlich innenpolitisch bedingten Scheiterns hatte er einen außenpolitischen Wertekanon geschaffen, der seit dem Sieg über das Hitlerreich für die internationalen Beziehungen als moralischer Maßstab gilt. Den Rahmen dafür lieferten nicht mehr die europäischen Imperien, sondern eine neue globale Friedensordnung.
Dieser Wandel liefert den historischen Hintergrund für die Beiträge von Peter Busch, Hans Kundnani, Victoria Honeyman sowie von Thomas Freiberger. In allen vier Fällen rechtfertigten liberal gesonnene Politiker militärische Gewaltanwendung mit moralischen Argumenten: US-Präsident John F. Kennedy ging von einer vorsichtig-flexiblen Reaktion auf kommunistisches Vordringen in Vietnam zum Ziel einer immer umfassenderen militärischen Niederwerfung der Vietminh über, um dort, wie er erklärte, Freiheit, Wohlstand und Frieden zu sichern. Ein begrenzter Guerillakrieg führte so zu einer immer massiveren US-Intervention in Südvietnam - und einem Krieg, an dessen Ende bekanntlich eine amerikanische Niederlage nicht nur im militärischen Bereich stand.
Im Mittelpunkt des nächsten Fallbeispiels steht Joschka Fischer als einzige deutsche Persönlichkeit in dieser Veröffentlichung. Seiner Herkunft nach militant linksradikaler "Friedenskämpfer", gelangte der führende Grünen-Politiker unter dem Einfluss seines Weggenossen Daniel Cohn-Bendit und unter dem Eindruck des Massakers von Srebrenica 1995 zur Überzeugung, dass die Bundesrepublik an der Seite der USA in den Kosovokrieg gegen Serbien eingreifen müsse, weil dort ein Völkermord drohte. Sei Deutschland dazu nicht bereit, mache es sich nach der im deutschen Namen begangenen Judenvernichtung zum zweiten Male an einem Völkermord mitschuldig. Aus Fischers Perspektive war die wiedervereinte deutsche Nation gleichsam zur Bewältigung der eigenen Vergangenheit verpflichtet, am Kosovokrieg militärisch mitzuwirken, um moralische Werte zu verteidigen.
Auch der britische Premierminister Tony Blair machte die Verteidigung der Menschenrechte zur Hauptaufgabe seines Landes. Er unterstützte deshalb die USA im Kosovokrieg und im Krieg gegen Iraks Diktator Saddam Hussein. Obwohl er damit Massenproteste auslöste und aus Sicht seiner Kritiker seine moralische Glaubwürdigkeit erschütterte, blieb der Labour-Führer überzeugt, durch Saddam Husseins Sturz die Menschenrechte verteidigt zu haben.
Im letzten Beitrag geht es um die Wahl der in einem Krieg einzusetzenden militärischen Mittel. US-Präsident Barack Obama stand vor dieser Frage bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, insbesondere der islamistischen Organisation Al-Qaida. Schockiert durch die Terrorangriffe von "9/11", befahl Obama mit bisher nicht erreichter Häufigkeit (ca. 500 Mal) den Einsatz von Drohnenwaffen gegen islamistische Terror-Netzwerke vor allem in Pakistan. Freiberger erkennt einen Zusammenhang zwischen dieser neuartigen Kriegführung und dem "christlichen Realismus", wie ihn unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs der von Obama geschätzte protestantische Theologe Reinhold Niebuhr konzipiert hat. Dieser Deutsch-Amerikaner war in seinen theologischen Reflexionen über das Problem des Einsatzes militärischer Mittel zur Friedenssicherung zum Schluss gekommen, dass zu einer dauerhaften umfassenden globalen Friedenssicherung Gewaltanwendung bisweilen berechtigt sei. Auch für Obama schlossen sich politischer Liberalismus und sicherheitspolitischer Realismus - sprich: Drohneneinsatz - nicht gegenseitig aus. Als Ausfluss einer "paranoiden" Einschätzung der Bedrohungslage der USA verurteilt der Autor jedoch diese Option als irregeleiteten, demokratisch-rechtsstaatlich nicht kontrollierten Kriegsakt.
Insgesamt legen die Autoren mit diesem Buch eine gründlich recherchierte, sachkundige Forschungsleistung vor, die durch das Überspringen des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs aber etwas punktuell geblieben ist. Auch fehlt eine Zusammenfassung, obgleich dieses Manko durch eine vom Herausgeber in seiner Einleitung beigesteuerte Vorschau auf die Thematik der Einzelbeiträge zu einem gewissen Grad wettgemacht wird. Das Unterfangen, die Aporie zwischen Moral und Gewalt historisch und theoretisch abschließend zu bewältigen, verbietet sich in einer unvermeidlich selektiven Aufsatzsammlung ohnehin. Immerhin: Ein vielversprechender Anfang ist gemacht, den die internationale historische Forschung hoffentlich bald weiterverfolgt.
Klaus Schwabe