Nacim Ghanbari / Michael Multhammer (Hgg.): Christlob Mylius. Ein kurzes Leben an den Schaltstellen der deutschen Aufklärung (= Aufklärung; Bd. 31), Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019, 358 S., ISBN 978-3-7873-3817-7, EUR 128,00
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Vermehrt um drei weitere Beiträge versammelt der Band die Vorträge einer Konferenz, die im April 2017 an der Universität-GHS Siegen abgehalten wurde. Der 1722 im schlesischen Reichenbach in eine mittellose Pastorenfamilie geborene Christlob Mylius, sieben Jahre älter als Lessing und (als 'Stiefvetter') sogar mit dessen Familie verwandt, unterrichtete als Privatlehrer den jüngeren Gotthold in Kamenz und besuchte wie dieser die dortige Stadtschule, immatrikulierte sich 1742 in Leipzig für Medizin und andere naturkundliche Fächer und starb bereits Anfang März 1754 in London vor Antritt einer Forschungsreise nach Amerika an der Cholera. In Lessings Nachruf in der Berlinischen Privilegierten Zeitung vom 26. März ist von "Peripneumonie" die Rede (20). In dem knappen Jahrzehnt seines Autorenlebens hatte sich Mylius in der expandierenden Öffentlichkeit zwischen Leipzig und vor allem Berlin schnell einen Namen erschrieben, als vielseitiger und berüchtigter Kritiker, Polemiker und Satiriker in diversen, zum Teil selbst gegründeten und meist kurzlebigen Journalen, als gelehrter Projektemacher und 'Freigeist' (so auch der Name einer seiner Zeitschriften), als Autor von Lehrgedichten, Lustspielen und Schriften zur Theaterreform, und dabei als ein 'Wissenschaftsjournalist' der ersten Stunde mit vielen Kontakten auch zur internationalen Kommunikation der Gelehrten.
Maßgeblich dafür, dass man Leben und Schriften dieses 'enfant terrible der Aufklärung' heute nach bald 300-jähriger Missachtung nahezu dem Vergessen entreißen muss, dürften weniger seine vielen uneingelösten Projekte und zahlreichen Widersacher als vielmehr seine enge Beziehung zu den Zeitschriften und dem Literaturprogramm seines früheren Förderers Gottsched und dessen Anhang gewesen sein. Denn weder die Patronage durch andere berühmte Gelehrte wie Albrecht von Haller und Abraham Gotthelf Kästner sowie die Berliner Akademie noch die enge Kooperation mit Lessing haben verhindert, dass Mylius, so liest man in der Einleitung der Herausgeber Nacim Ghanbari und Michael Multhammer, als einer der "Autoren der vermeintlich 'zweiten' oder gar 'dritten' Reihe" endete, die trotz glänzender 'Vernetzung' zu Lebzeiten schließlich "durch die engen Maschen der autonomieästhetisch grundierten Literaturgeschichtsschreibung ausgesiebt und dem allgemeinen Bewußtsein entzogen wurden" (11). Dass dann Lessing, in diesem historiografischen Konzept der früheste der 'Klassiker', ausgerechnet in der Vorrede zu den Vermischten Schriften, die er noch 1754 zum Andenken seines Verwandten und Mentors besorgte, mehrere von dessen Arbeiten als Produkte eines verkrachten Genies und dreisten Plagiators verhöhnte und verurteilte, machte Mylius nur desto sicherer zum "Opfers eines 'Gottsched-Narrativs'" (17), versetzte seinen besonderen Fall jedoch noch zusätzlich in eine rätselhaft skandalöse Aura, mit der die Lessingforschung noch heute nicht recht umzugehen weiß, wenn sie sich noch immer zwischen Verharmlosungen wie "merkwürdig ambivalent" (57) und "Rufmord" (60) bewegt. [1] Während Friedrich Vollhardt in seinem Beitrag "Die Kamenz-Connection: Mylius und der junge Lessing" dessen Urteile auf seine grundsätzliche Ablehnung eines "neologischen Habitus" bei Mylius zurückführt (56, 62), freilich ohne näher zu erklären, was genau damit abseits der theologischen 'Neologie' der Berliner (Spät)Aufklärung gemeint sein soll, bietet Multhammer mit seiner Zuordnung von Lessings Vorrede zu dessen "Rettungen" gewiss die überzeugendere Alternative nicht nur zu Nisbets "Rufmord", sondern auch zu Scholz' Idealisierungen. [2] Jürgen Stenzel hat diese Lesart schon vor Multhammer fast so prägnant formuliert wie Lessing selbst, den er am Ende zitiert: "Mylius habe [so Lessing] besonders schmerzhaft das 'neidische Geschick' an sich erfahren, das in Deutschland allen mittellosen Genies drohe. [...] Es ist wahr, Lessing weiß wenig Schmeichelhaftes über Mylius und seine literarische Karriere zu sagen, doch dafür macht er unmißverständlich klar, daß er von keinem Versager, sondern von einem Opfer spricht. Für Lessing ist es allein der Mangel an Unabhängigkeit, der Mylius zum Lohnschreiber und Boulevardier gemacht, seine wissenschaftliche Bestimmung blockiert und schließlich sein Ende als Hochstapler provoziert hat.' (...) er reisete auf fremder Leute Gnade; und was folgt auf fremder Leute Gnade? Er starb.'" [3]
Wir haben hier vor allem Lessings Mylius-Kritik als eine der Besonderheiten in dieser Rezeptionsgeschichte näher betrachtet und müssen auch deshalb darauf verzichten, die 12 Beiträge des Bandes im einzelnen vorzustellen, die sich an die sehr gut orientierende Einleitung und das Überblicksreferat von Stefanie Stockhorst (Potsdam) über "Präjudizien, Projekte, Perspektiven" sowie den Beitrag von Vollhardt (München) anschließen. Laut Einleitung sollen in dem Band vor allem zwei Themenbereiche diskutiert werden: zum einen Mylius' Lustspiele und theaterkritische Schriften und andererseits "die sozialen Bedingungen, unter denen Mylius forscht und arbeitet" (12) und dazu gehören auch seine Aktivitäten als Popularisator der Naturforschung. Christin Eichhorn (Paderborn) untersucht die "schwierige Distanzierung" von Gottsched; Oliver Bach (München) und andere behandeln mehrere Lustspiele unter einer Fülle von auch philosophischen Aspekten, während sich Christoph Schmitt-Maaß (München) mit Mylius' "literaturkritischer Freigeisterei" beschäftigt und andere Beiträge seiner Theaterpublizistik, an der Seite Gottscheds wie auch gegen ihn, gewidmet sind. Hans-Joachim Jakob (Siegen) handelt von zwei von Mylius aus dem Französischen übersetzten Erdbeben-Berichten von 1750, fünf Jahre vor Lissabon, und Barbara Mahlmann-Bauer (Burgdorf/Schweiz), Tanja von Hoorn (Hannover) und Wilhelm Kühlmann (Heidelberg), der 4 Briefe von Mylius an den Nürnberger Apotheker Johann Ambrosius Beurer zum ersten Mal abdruckt und kommentiert, widmen sich seiner Rolle als aktiver Wissenschaftsjournalist und Liebhaber der Naturforschung; Mahlmann-Bauer verfolgt, nicht zum ersten Mal, die Forscher- und Journalistenkarriere mit der Übersicht über alle Aufsätze in den zehn Heften des 1. Jahrgangs seines Journals Physicalische Belustigungen von 1751 im Anhang, gefolgt von einer Liste der z.T. berühmten Gelehrten aus verschiedenen Ländern, die in Mylius' Zeitschrift publiziert haben. [4]
Abschließend noch zu einem bemerkenswerten Hinweis in der an Analyseaspekten reichhaltigen Einleitung, der in dem Band leider nicht aufgegriffen wird. Gemeint sind, im Hinblick auf Lessings Herausgabe der Vermischten Schriften und im weiteren Kontext von Freundschaft und Patronage, die rezenten Forschungen zur 'literarischen Manuskriptkultur' und zum Thema "Manuscript für Freunde" (16, u. dort weitere Hinweise in den Fn.): offenbar eines der wenigen neu erschlossenen Forschungsfelder in der Literaturwissenschaft der letzten Jahre, dessen Relevanz und Ergiebigkeit unmittelbar einleuchtet - leider ohne Hinweis auf den 2007 verstorbenen australischen Literarhistoriker Harold Love, den hierzulande offenbar unbekannten Pionier auf diesem Feld der Frühneuzeitforschung. [5]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessings Umgang mit Außenseitern, in: Lessings Skandale, hgg. von Jürgen Stenzel / Roman Lach, Tübingen 2005, 79-100, hier 92: "Lessings Vorrede beginnt wie eine Rettung und endet wie ein Rufmord." - Eine große Ausnahme ist das Mylius-Kap. in der Psychobiografie Lessings von Rüdiger Scholz, der Lessings Opfer im Gegenzug geradezu idealisiert, vgl. Rüdiger Scholz: Die heimliche Autobiographie des Gotthold Ephraim Lessing, Würzburg 2020, und dazu die Rez. von Herbert Jaumann in: Informationsmittel f. Bibliotheken (IfB) Folge 20-4 (2020). Vgl. auch Scholz' ungewöhnlich ausführliche Besprechung des vorliegenden Bandes, der in seinem großen Werk nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Späte Gerechtigkeit, in: literaturkritik.de 12 (2020).
[2] Vgl. Michael Multhammer: Lessings 'Rettungen'. Geschichte und Genese eines Denkstils, Berlin / Boston 2013 (Diss. Erfurt 2012), 285-303, und in der Einleitung zum vorliegenden Band.
[3] Jürgen Stenzel: Kommentar zu: Vorrede zu "Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius, gesammelt von Gotthold Ephraim Lessing", Berlin 1754, in: G. E. Lessing: Werke u. Briefe, Bd. 3: Werke 1754-1757, hg. von Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner / Jürgen Stenzel, Ffm. 2003, 1107-1125, hier: 1119.
[4] Vgl. auch Barbara Mahlmann-Bauer: Die Anfänge der Berliner Académie Royale des sciences im Urteil der gelehrten Öffentlichkeit, in: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition, hgg. von Klaus Garber [u.a.], Tübingen 1996, 1413-1453, bes. 1445 ff., und dies.: Art. Mylius, Christlob, in: Killy Literaturlexikon, 2. Aufl. Bd. 8 (2010), 475-477.
[5] Vgl. dessen Scribal Publication in Seventeenth-Century England, Oxford 1993.
Herbert Jaumann