Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwischen Verfolgung und "Volksgemeinschaft". Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung; Heft 1), Göttingen: Wallstein 2020, 147 S., ISBN 978-3-8353-3517-2, EUR 18,00
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Der mittlerweile große zeitliche Abstand zu den Jahren zwischen 1933 und 1945 ist mit einem grundlegenden erinnerungskulturellen Perspektivenwechsel und mit Herausforderungen für die Gedenkstättenarbeit verbunden. 2015 trug beispielsweise eine von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme herausgegebene Publikation mit dem Titel "Gedenkstätten und Geschichtspolitik" diesen Veränderungen Rechnung. Neukonzeptionen von Gedenkstätten-Dauerausstellungen berücksichtigen seit Jahren bereits junge Besuchergruppen, in deren Familien kaum noch jemand nach seinen Erinnerungen an das Leben als Kind oder Jugendlicher in den Jahren 1933 bis 1945 gefragt werden kann. Am 27. Januar 2021 sprachen anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus bezeichnenderweise eine Überlebende und eine "Vertreterin der dritten Generation nach der Shoah". [1]
Bei dem hier vorgestellten Band "Zwischen Verfolgung und "Volksgemeinschaft"" handelt sich um den "Auftakt einer neuen Zeitschrift" (Vorwort, 7). Zusammengeführt wurden die von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme seit 1994 herausgegebene Reihe "Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland" (Edition Temmen, Bremen) und die von der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland herausgebrachte, bislang zwei Bände umfassende Reihe "Konzentrationslager. Studien zur Geschichte des NS-Terrors". Letztere erschienen im Metropol Verlag, Berlin. Das nun vorliegende erste Heft der neuen Reihe ist im Wallstein-Verlag, Göttingen erschienen und setzt mit dem Themenschwerpunkt "Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus" einen interessanten inhaltlichen und programmatischen Auftakt-Akzent. Impulsgebend für das vorliegende Heft war eine Wanderausstellung "Kinder im KZ Bergen-Belsen", die Grundlage bilden Beiträge zu einem in diesem Zusammenhang von den Gedenkstätten Neuengamme und Bergen-Belsen veranstalteten Workshop.
Im Editorial formuliert Jens-Christian Wagner, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, zwei Aspekte gelte es miteinander zu verbinden: die Erziehung zur "Volksgemeinschaft" und daraus resultierende Prägungen einerseits, die Beschäftigung mit ausgegrenzten, verfolgten Kindern und Heranwachsenden mit in höchstem Maße belastenden, wenn nicht gar traumatischen Gewalterfahrungen andererseits. Zudem gelte es, den Blick auch auf seelische Nachwirkungen bei denjenigen zu richten, die in der NS-Zeit Kinder und Jugendliche waren. Schließlich sei nach Gegenwartsbezügen, besonders für die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten zu fragen.
Das Heft umfasst acht Beiträge, es enthält zudem eine Rezension, eine Liste mit aktuellen gedenkstättenrelevanten Neuerscheinungen. Alfons Kenkmann spannt einen weiten zeitgeschichtlichen Bogen - zwischen "Inklusion und Exklusion" - und betont die Bandbreite von Erfahrungs- und Lebenswelten derjenigen, die in der NS-Zeit aufwuchsen. Auf interessante und für die Forschung zweifelsohne wichtige Einzelaspekte, die in der hier gebotenen Kürze nicht alle angesprochen werden können, konzentrieren sich beispielsweise Kathrin Kiefer, Diana Gring und Wiebke Hiemisch. Kiefer widmet sich der in vielen Fällen seelisch stabilisierenden Bedeutung von Geschwisterbeziehungen für Heranwachsende. Diese seien, so die Autorin, "von zentraler Bedeutung für das kindliche Überdauern des Krieges bzw. das Überleben der KZ-Haft" gewesen (41). In den Aufsätzen von Diana Gring, die ausführlich mit einigen in Bergen-Belsen Geborenen gesprochen hat, und von Insa Eschenbach, der sich mit Erinnerungen einstiger Ravensbrück-Überlebender befasst, werden nicht zuletzt die Grenzen des Sagbaren deutlich. Das gilt auch für den Beitrag von Wiebke Hiemisch, dessen Untersuchungsgegenstand die Situation von Kindern in Ravensbrück ist. Thomas Rahe wendet sich Möglichkeiten und psychischer Bedeutung kindlichen Spielens in Bergen-Belsen zu. Herbert Diercks widmet seine Aufmerksamkeit facettenreichen Spuren unangepassten Verhaltens Jugendlicher in Hamburg.
Bei der Lektüre des Aufsatzes von Gisela Miller-Kipps Aufsatz über die Hitlerjugend stellt sich die Frage, ob die ausführlichen Darlegungen des organisatorischen Aufbaus der Hitlerjugend nicht zugunsten einer Reflexion des Begriffs "Volksgemeinschaft" unter Berücksichtigung aktueller Forschungen hätten gekürzt werden sollen. Außerdem sind Hinweise auf in der Hitlerjugend wirksame, jedoch nicht allein NS-spezifische Erziehungstraditionen und -praktiken zu vermissen, die sich durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ziehen und bis in den 1960er Jahre Zustimmung fanden.
Insgesamt gesehen ist der hier besprochene Band ein vielversprechender Anfang bzw. "Auftakt", der viele Anregungen zur Weiterführung enthält. Einige Details ließen sich vielleicht noch überdenken, z.B. werden einleitend die Beiträge kurz zusammengefasst, am Ende jedes Aufsatzes noch einmal und am Ende des Heftes gibt es schließlich auch noch englischsprachige Zusammenfassungen. Eine Anmerkung zur Forschungslage sei zudem gestattet: Das weite Themenfeld "Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus" sei in der Forschung "überraschend unterrepräsentiert"(9), heißt es einleitend. Das lässt sich so pauschal wohl nicht sagen. Wichtiger noch vielleicht: Nach wie vor bestehen einige grundlegende Desiderate. Wünschenswert wäre vor allem eine erweiterte interdisziplinäre Herangehensweise, die unbedingt neuere Erkenntnisse der Traumaforschung einbeziehen sollte. [2] "Child survivors", Kinder und Jugendliche, die der Shoah entkamen, bedurften aufgrund der über einen langen Zeitraum hinweg erlittenen Traumata besonderer Zuwendung und Unterstützung. Das ist recht gut untersucht worden und auch die schwierige Frage der Weitergabe belastender Erfahrungen an nachfolgende zweite und dritte Generationen dürfte für die künftige Gedenkstättenarbeit unerlässlich sein.
Anmerkungen:
[1] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw04-opfer-nationalsozialismus-816352 (2.2.2021)
[2] Barbara Stambolis / Ulrich Lamparter (Hgg.): Folgen sequenzieller Traumatisierung. Zeitgeschichtliche und psychotherapeutische Reflexionen zum Werk von Hans Keilson, Gießen 2021. Inhaltsverzeichnis unter: https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/products_id/3034 (2.2.2021)
Barbara Stambolis