Paul Erker: Rente im Dritten Reich. Die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte 1933 bis 1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, VII + 646 S., 29 Farb-, 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-064608-5, EUR 59,95
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Der wirtschafts- und sozialhistorisch orientierte Verfasser hat die NS-Diktatur schon aus vielen Perspektiven ausgeleuchtet. In der vorliegenden Studie bettet er die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte nicht nur in einen breiten sozialpolitischen Kontext ein, sondern behandelt auch die Ausweiterung ihrer Tätigkeitsfelder im Zuge der Kriegs- und Annexionspolitik des NS-Regimes.
Die personelle Umbesetzung der Reichsversicherungsanstalt zog sich nach 1933 über zwei Jahre hin. Das Herausdrängen unerwünschter Mitarbeiter aus der Reichsversicherungsanstalt wurde von Albert Grießmeyer, der seit 1931 und bis 1945 an der Spitze der Organisation stand, von innen her betrieben. Nach seinem Eintritt in die NSDAP im April 1933 bemühte er sich um eine zeitnahe Umsetzung antisemitischer Bestimmungen, auch im Leistungssektor, wo erbbiologische und rassenbiologische Gesichtspunkte zur Anwendung kamen. Sein Handeln oszillierte zwischen aktiver Einleitung personeller Säuberungen und der Gleichschaltung der internen Verwaltung einerseits sowie einer formalbürokratischen Resistenz gegen die Eingriffe der Deutschen Arbeitsfront andererseits. Nach Durchleuchtung seiner privaten Kontakte, die er zu "jüdischen Kreisen" (63) unterhielt, geriet er selbst kurzzeitig unter Beobachtung. Trotz gelegentlicher Zweifel sorgte Grießmeyer mit Rückendeckung des Reichsarbeitsministeriums für einen grundlegenden Wandel der Behördenkultur.
Im Zuge dieses Transformationsprozesses wurden alte Vorstellungen auf den Prüfstand gestellt. Ohnehin war die Erwartungshaltung der Klientel der Reichsversicherungsanstalt von Beginn an hoch, denn sie forderte deutliche Korrekturen am Leistungsgefüge, nachdem die Rentensätze durch die Notverordnungen der Präsidialkabinette auf einen niedrigen Stand herabgedrückt worden waren. Die Reaktion auf diese "aufgeheizte Stimmung" (72) fiel von Seiten der Reichsversicherungsanstalt dürftig aus. Die Bürokraten waren gleichmäßiges Verwaltungshandeln gewohnt und dachten in hergebrachten Bahnen. Die angestrebte Vereinheitlichung, zum Beispiel durch das am 5. Juli 1934 verabschiedete Aufbaugesetz, kam nicht wesentlich voran. An der rechtlichen Komplexität schien kein Weg vorbeizuführen, sodass die starke Heterogenität des Sozialrechts erhalten blieb. Insgesamt handelte die Reichsversicherungsanstalt, auch in den Augen des NS-Regimes, mit mäßigem Erfolg bei der Herstellung von Regimeloyalität und der Forcierung der Arbeitsintegration.
Auch die rassische Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im Bereich der Rentenversicherung bereitete in ihrer bürokratischen Durchführung Probleme. Da die Aufnahme dieses Kriteriums dem Versicherungsrecht bislang fremd war, waren die zur Exklusion bestimmten Personen unter den Millionen von Versicherten und Rentnern schwer zu identifizieren. Die Praxis konzentrierte sich daher auf die ausreisewillige bzw. die bereits im Ausland lebende jüdische Bevölkerung, deren Rentenzahlungen eingestellt wurden.
Aufschlussreich sind die mit hohem Verständnis für die versicherungstechnische Detailarbeit geschriebenen Ausführungen Erkers zum Handwerkerversorgungsgesetz von 1938. Es brachte Privatisierungselemente in das Sozialrecht, indem die Versicherten Finanzmarktprodukte für ihre Alterssicherung erwerben mussten. Jedoch blieben einige Punkte strittig wie etwa die Einbeziehung der Witwen verstorbener Handwerksmeister oder der saisonalen Gewerbetreibenden mit Niedrigeinkommen. Im Ganzen stellte sich die Gesetzesreform als Resultat einer erfolgreichen Lobbyarbeit der privaten Versicherungsunternehmen auf der Suche nach neuen Kunden dar. Für die Reichsversicherungsanstalt war sie ein "Desaster" (273), weil sie zu zahlreichen gesellschaftlichen Konflikten Anlass gab.
Zu den Stärken des Bandes gehört es, dass er die Expansion der Reichsversicherung über Deutschlands Grenzen hinaus thematisiert. Längere Abschnitte widmen sich zunächst der Eingliederung Österreichs und des Sudetenlandes, dann wird die Situation der besetzten Westgebiete sowie der eingegliederten und besetzten polnischen Gebiete thematisiert. Die Eingliederung der österreichischen Angestellten nach dem "Anschluss" war mit Problemen verbunden, weil das traditionelle österreichische Rentenrecht von den deutschen Bestimmungen abwich. Zumindest blieb das deutlich höhere Leistungsniveau in der sogenannten Ostmark bestehen, wenn es möglich war, alle erworbenen Leistungsrechte aufrecht zu erhalten. Die beschleunigt durchgeführte Rechtsumstellung bewertete die Reichsversicherungsanstalt als Erfolgsgeschichte, weil ihr zugleich die Sanierung der österreichischen Angestelltenversicherung gelang. Ähnlich stellten sich die Anforderungen im eingegliederten Sudetenland dar, doch stieß die reichsdeutsche Versicherungsbürokratie hier an ihre Grenzen, weil vieles überhastet und zum Nachteil der Leistungsempfänger geregelt wurde. Im Zweiten Weltkrieg scheiterte eine eindeutige Rechtsangleichung, sodass viele Einzelproteste über Benachteiligungen bei der Reichsversicherungsanstalt eingereicht wurden.
Eine derart umfangreiche Übertragung deutschen Rechts fand in den besetzten Westgebieten nicht statt. Nur in den de facto annektierten Gebieten wie dem Elsass, Lothringen, Luxemburg und Eupen-Malmedy wurde das Reichsversicherungsrecht eingeführt. Am Beispiel der Amtsstelle Straßburg lässt sich der Austausch mit Berlin in Rentenversicherungsfragen nachzeichnen. Der deutsche Einfluss bezog sich nicht nur auf die Umstellung des Leistungsrechts, sondern reichte bis zu Vermögensauseinandersetzungen mit den früheren Sozialversicherungsträgern, deren Kapital sich teils in Frankreich befand. Im annektierten bzw. besetzten Polen ließ sich die Reichsversicherung nicht überall gleichzeitig einführen. Am einschneidendsten war der "Polenstatus" vom August 1942, der die Nationalpolen ebenso wie die jüdische Bevölkerung vom Bezug regulärer Leistungen der Rentenversicherung ausschloss.
Nicht alle Facetten der differenzierten quellenbasierten Untersuchung konnten hier thematisiert werden. Neben der Schließung der Lücke hinsichtlich der NS-Geschichte der Angestelltenversicherung bietet der Band eine rundum überzeugende Interpretation der häufig ambivalenten sozialpolitischen Detailentscheidungen im Nationalsozialismus. Die gründliche Organisationsanalyse der Versicherungsanstalt leistet einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte der ideologischen Umformung der Sozialpolitik, sondern auch zur rassischen Exklusionspolitik des NS-Regimes.
Marcel Boldorf