Mirko Breitenstein / Gert Melville (Hgg.): Die Wirkmacht klösterlichen Lebens. Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte (= Klöster als Innovationslabore; Bd. 6), Regensburg: Schnell & Steiner 2020, 312 S., 16 Farb-, eine s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3422-9, EUR 49,95
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Mirko Breitenstein / Stefan Burkhardt / Julia Dücker (Hgg.): Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012
Mirko Breitenstein / Julia Burkhardt / Stefan Burkhardt u.a. (Hgg.): Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015
Gert Melville / Johannes Helmrath (eds.): The Fourth Lateran Council. Institutional Reform and Spiritual Renewal, Affalterbach: Didymos-Verlag 2017
Ausgehend von der Feststellung, dass Religiose mit dem Eintritt in ein Kloster oder einen Orden zwar der Welt zu entfliehen suchten, ihr aber doch im Leben nie ganz entkommen konnten, sondern sie letztlich auch wieder gestalteten, fragt der vorliegende Sammelband nach den Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen dieser Weltgestaltung. Die Beiträge gehen auf eine Tagung im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Nimbschen in Sachsen im Jahr 2016 zurück, aus dem einst Katharina von Bora, die nachmalige Ehefrau Martin Luthers, geflohen war - gewissermaßen zurück in die Welt.
Nach einer kurzen Einleitung der Herausgeber, in der sie "Macht" definieren und den Fokus des Bandes insbesondere auf "klösterliche Formen von Handlungs- und Gestaltungsmacht [...]" (8) legen, folgen insgesamt 13 Aufsätze in vier Sektionen, aus denen nun je ein Aufsatz näher besprochen werden soll. Eva Schlotheuber nimmt in ihrem Beitrag in der ersten Sektion spätmittelalterliche Frauenklöster als "Wissens- und Bildungsraum" (33-51) in den Blick. Dabei geht sie den besonderen Bedingungen nach, unter denen Frauen Bildung erwerben und weitergeben konnten, und demonstriert, wie das Kloster zu einem "verborgene[n] Bildungsraum" (44) und die Konvente zu "Bildungsgemeinschaften" (45) wurden, in denen nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch beeindruckende und einzigartige Zeugnisse weiblicher Liturgieexegese produziert wurden - etwa die Chorbücher der Dominikanerinnen aus Paradiese bei Soest. Die Wirkmacht geistlicher Frauen nach außen beschränkte sich laut Schlotheuber zwar seit der hochmittelalterlichen Kirchenreform auf die durch göttliche Offenbarung autorisierte gelehrte Rede, aber das hohe Niveau klösterlicher Bildung habe den "Nährboden der großen Visionärinnen und Mystikerinnen" (51) gebildet, die diese verbliebene Möglichkeit so eindrucksvoll nutzten.
Teil der folgenden Sektion ist ein Beitrag von Michael Hänchen und Gert Melville zur "Macht formaler Verfahren" (97-120), der die Regulierungsmechanismen der Zisterzienser und Cluniazenser bei endogenen und exogenen Störungen behandelt. Ausgehend von der systematischen Analyse hunderter Visitationsberichte und Generalkapitelsbeschlüsse aus beiden Verbänden im Rahmen eines DFG-Projekts, in dem sie nachweisen konnten, dass die allermeisten Störungen oder Konflikte mit routinemäßigen, formalisierten Verfahren ordensintern gelöst wurden, besprechen die Autoren im Beitrag den Gang solcher Verfahren an Beispielfällen. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Verfahrensfehler, das bewusste Unterlaufen von Routinen (etwa durch Gewaltausübung) oder die Einwirkung externer Kräfte die Regulierungsverfahren heraus- oder sogar überforderten, so dass mit Bischöfen oder dem Papst höhere Instanzen angerufen werden mussten, um letztlich den Fall wieder in die eigene Autonomie zurückzuführen. Beachtenswert ist auch die Rollenunterscheidung, die es etwa ermöglichte, dass ein Abt, der selbst Partei in einem Streitfall war, gleichzeitig in einem anderen Konflikt mit dessen Lösung beauftragt wurde. Der äußerst erhellende Beitrag, der auch den Informationsreichtum in den angesprochenen Quellen demonstriert, wird durch detaillierte Ablaufschemata zu einigen der behandelten Fälle ergänzt.
Die dritte Sektion enthält unter anderem Anette Kehnels Aufsatz "Neue Kommunikationsformen im Bettelordenskonvent und der Aufstieg der Universitäten" (177-199). Als spezifisch neu an den Kommunikationsformen der Mendikanten hebt die Autorin unter anderem eine Durchlässigkeit zur Außenwelt hervor, die sich nicht zuletzt in einer funktional offenen Architektur und der vielfachen Nutzung der Konvente durch Außenstehende zeigt. Aber auch für die Brüder selbst waren die Konvente, die nun neben der Gemeinschaft auch die Niederlassungen selbst bezeichneten, durchlässiger als die Klöster der monastischen Verbände. So wurde der Konvent zum "Kommunikationsmotor" (190), in dem regelmäßig auch ortsfremde Brüder weilten, die sich - im Gegensatz zu Mönchen, die bei den Mahlzeiten in der Regel schweigend der Tischlesung zu folgen hatten - selbst beim Essen mit den lokalen Mitbrüdern austauschen konnten. Im letzten Teil weist Kehnel auf bemerkenswerte Parallelen zwischen Bettelordenskonventen und universitären Colleges für "pauperes scholares" hin und vertritt die These, dass erstere Vorbilder für letztere boten. Während Korrelationen zwar in den Quellen schwer zu fassen seien, ließen sich jedoch "Zusammenhänge plausibilisieren" (197), was Kehnel im Anschluss für die Sorbonne und das Balliol College (Oxford) tut.
Matthias M. Tischler befasst sich in seinem Beitrag "Warum Clunys Islamprojekt zunächst scheitern musste und schließlich doch ein Erfolg wurde" in der vierten und letzten Sektion des Bandes mit der Auseinandersetzung des Reformmönchtums mit dem Islam vom 11. bis zum 13. Jahrhundert (275-298). Dreh- und Angelpunkt des Beitrags ist Petrus Venerabilis (Abt von Cluny 1122-56) und dessen "Islamprojekt". Nach einem "eklatanten Mangel an Islamkompetenz" (283) und tiefem Unwissen über die Religion sowohl in Cluny als auch an der Kurie noch am Ende des 11. Jahrhunderts, dokumentiert Tischler unter Petrus Venerabilis zum ersten Mal umfangreiche Anstrengungen, authentische arabische Texte aus dem Islam ins Lateinische zu übersetzen, zu studieren und sich auf dieser Basis mit dem Islam auseinanderzusetzen. Die von Petrus angestrebte Aufnahme des intellektuellen statt physischen Kampfes gegen den Islam habe Mitte des 12. Jahrhunderts aber noch am Dissens innerhalb der Christenheit und sogar in der Abtei Cluny selbst über den geeigneten Umgang mit dem Islam scheitern müssen. Petrus' Bemühen und das unter ihm entstandene Corpus Islamo-Christianum sollte aber in späterer Zeit auf fruchtbaren Boden fallen, wie Tischler zeigt. Nachdem Mitte des 13. Jahrhunderts eine nennenswerte Rezeption des Corpus einsetzte, verfasste der 1320 verstorbene Dominikaner Riccoldo da Monte di Croce als Antwort auf Petrus' Schrift "Contra sectam Sarracenorum" eine systematische Widerlegung des Qur'ān, die ihrerseits enorme Rezeption erfuhr und mit dem cluniazensischen Corpus letztendlich zu einer Voraussetzung für die konfessionell-theologische Auseinandersetzung mit dem Islam seit 1543 wurde. "Religioses und intellektuelles Charisma kann also bedeuten, im eigenen Zeitkontext zu scheitern, aufgrund von Weitsicht aber dennoch ein erfolgreiches Werk zu hinterlassen, dessen Potential erst in neuen Konstellationen erkannt und ausgeschöpft wird" (297). Abgerundet wird das Buch durch einen zusammenfassenden Beitrag von Stefan Weinfurter † (299-307), dem der Bildnachweis und Register der Orte und Personen folgen.
Der empfehlenswerte Band versammelt sehr lesenswerte und anregende Beiträge - dies gilt ausdrücklich auch für die hier nicht besprochenen. Die Autorinnen und Autoren widmen sich dabei sehr unterschiedlichen Aspekten der Wirkmacht klösterlichen Lebens, immanent auf die einzelnen Religiosen, die Konvente und die Orden samt ihren Institutionen, transzendent auf die Gesamtkirche und die Gesellschaft bezogen; von Höllenvorstellungen und eschatologischen Eigentumsdeutungen über formale Verfahren und spezifische Wirtschaftsformen bis hin zur Einführung der deutschsprachigen Predigt und der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Islam. Zu bemängeln sind nur Quisquilien wie die ungewöhnlich hohe Dichte an Tippfehlern in einem Aufsatz und die sicher versehentliche Bezeichnung des Karmeliters Jean Golein als Kartäuser (170f.) in einem anderen.
Björn Gebert