Dunja Bulinsky: Nahbeziehungen eines europäischen Gelehrten. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und sein soziales Umfeld, Zürich: Chronos Verlag 2020, 192 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1561-5, EUR 48,00
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Der Nachruf auf Johann Jakob Scheuchzer, der 1733 in der Zeitschrift Mercure suisse erschien, endete mit einer Zeile aus seiner Grabinschrift: "Non senio sed labore confectus" (Nicht dem Alter, sondern der Arbeit erlegen). Dass ein Übermaß an rastloser Arbeit eine der Ursachen war, an denen der erst 61jährige Gelehrte gestorben ist, erscheint angesichts des außerordentlich breiten Spektrums seiner Forschungsinteressen, Exkursionen und Korrespondenzen wahrscheinlich. In der Tradition des Züricher Polyhistors Conrad Gessner (1516-1565) widmete er sich der Medizin, der Mathematik, der Geologie, der Paläontologie - damals noch Petrefaktenkunde - und vor allem der Naturgeschichte der Schweiz. Als einer der wichtigsten Protagonisten der Physikotheologie, der anfangs noch davon ausging, dass Versteinerungen "Naturspiele" anorganischen Ursprungs seien, und sich später zu einem entschiedenen Vertreter der auf John Woodward zurückgehenden "Diluvialtheorie" wandelte, war Scheuchzer schon früh ein Gegenstand der wissenschaftshistorischen Forschung. Dementsprechend sind die Publikationen, die sich mit seiner Person und seinen Schriften beschäftigen, heute nur noch schwer überschaubar.
Die vorliegende Studie der Luzerner Historikerin Dunja Bulinsky ist die leicht überarbeitete Fassung ihrer Dissertation von 2018; Simona Boscani Leoni (Universität Bern), eine maßgebliche Expertin der heutigen Scheuchzer-Forschung, verfasste das Zweitgutachten. Von anderen, vergleichbaren Arbeiten der "Scheuchzer-Forschung" unterscheidet sich Bulinskys Studie primär dadurch, dass sie ihren Blick auf die praktischen Mechanismen der Wissensproduktion richtet und damit einen originellen Beitrag zu einer Forschungsrichtung leistet, die häufig als practice turn bezeichnet wird. Gelungen ist ihr dies durch eine subtile Kenntnis des gedruckten und ungedruckten Werkes von Scheuchzer, vor allem aber durch ihr "Eintauchen" in dessen riesiges Briefkorpus, das Briefe von ungefähr 700 Partnern in ganz Europa umfasst, darunter so bedeutenden Gelehrten wie Isaak Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine weitere Quelle waren die "Paratexte", die Widmungen und Vorreden von Scheuchzers Schriften, die bisher noch nicht systematisch untersucht worden sind. Aufgrund dieses Quellenstudiums entwickelt die Autorin ein lebendiges Bild vom Wohnen, Forschen, Lehren und Lernen in Scheuchzers Züricher "Haus zur Lerche" in der Trittligasse 5. Nicht zuletzt durch seine bis kurz vor seinem Tod unsichere wirtschaftliche Lage war der Polyhistor gezwungen, eine Reihe von Schülern, die für Kost und Logis zahlten, in sein Haus aufzunehmen. Diese "Pensionäre" wurden in verschiedenen Fächern unterrichtet und nahmen in unterschiedlichem Maße auch am Familienleben der Scheuchzers teil. Einige von ihnen waren Söhne von Scheuchzers Korrespondenzpartnern und wurden ihrerseits später in sein Korrespondenznetz eingebunden, nahmen an seinen Alpenreisen teil und trugen durch Beobachtungen, wissenschaftliche Mitteilungen und Naturalientausch zu seinen Forschungen bei. In Form von kurzen biographischen Skizzen schildert Dunja Bulinsky die sich teilweise über Jahrzehnte erstreckenden Beziehungen zu seinen bekanntesten Schülern: zu Johann Jacob Leu, Laurenz Zellweger und Johann Friedrich Leopold. Auch hier bildeten bisher nicht publizierte Briefe die Grundlagen ihrer Forschungen.
Parallel zu den Lehrer-Schüler Beziehungen schildert die Autorin Scheuchzers Beziehung zu seiner Ehefrau, der Ratsherrentochter Susanna Vogel, deren Rolle sich keineswegs auf die einer Wirtschafterin und Organisatorin beschränkte. Gelegentlich nahm sie an den Führungen teil, bei denen der Gelehrte auswärtige Besucher in seine Bibliothek und seine Naturaliensammlungen einführte, und sie begleitete ihn 1704 auf seiner dritten, der landeskundlichen Exploration dienenden Alpenreise.
Unter den weiteren Familienmitgliedern, die Scheuchzer in sein Forschungsprogramm zu integrieren verstand, rangiert an erster Stelle sein jüngerer Bruder Johannes Scheuchzer (1684-1738), der ähnlich gut ausgebildet war, ähnlich weit gespannte Interessen besaß, zeitgleich mit seinem Bruder Bibliothekar an der Zürcher Bürgerbibliothek war und doch zeitlebens im Schatten seines übermächtigen Bruders stehen sollte (73-92). Ein gesondertes Kapitel (83-86) ist dem Toggenburger Krieg (1712) gewidmet, an dem beide Brüder in unterschiedlichen Funktionen teilnahmen. Beide waren auch am Abtransport bedeutender Bücher, Manuskripte und Artefakte, darunter dem berühmten Erd- und Himmelsglobus, aus St. Gallen nach Zürich beteiligt - einem eklatanten Fall von Kunstraub, der zu einem jahrhundertelangen Kunstgüterstreit führen sollte, der erst 2006 beigelegt werden konnte. Nachdem sich Johannes Scheuchzer mehrfach vergebens um einen Lehrstuhl für Botanik in Bologna und Padua beworben hatte, gelang es ihm 1719 mit der Publikation eines umfassenden Werkes über die Gräserkunde Agrostographia eine anerkannte "Nische in der Naturgeschichtsschreibung zu besetzen, die von seinem Bruder nicht beansprucht worden war" (91). Nach dessen Tod wurde er endlich auf die ersehnte Stelle eines Stadtarztes und Professors für Physik in Zürich berufen.
Beruflich weniger erfolgreich agierten die Söhne Johann Jakob Scheuchzers - seine einzige Tochter war schon als Kind verstorben -, die alle eine gründliche Elementarausbildung von ihrem Vater erhalten hatten. Nur der drittgeborene Sohn Johann Caspar Scheuchzer (1702-1729) war naturkundlich ähnlich begabt und interessiert wie sein Vater. Er ging 18jährig nach London, assistierte Hans Sloane, dem späteren Präsidenten der Royal Society, studierte erfolgreich am Londoner College of Physicians, übersetzte Engelbert Kaempfers ungedrucktes Manuskript "Heutiges Japan" ins Englische und widmete sich der Erforschung der Pockenschutzimpfung. Noch am Anfang seiner verheißungsvoll begonnenen wissenschaftlichen Karriere stehend, verstarb er 1729 im Hause von Hans Sloane.
Ein häufig geübtes Verfahren, eine wissenschaftliche Arbeit zu nobilitieren, ist es, ihr zu attestieren, sie habe Forschungslücken geschlossen. Weniger häufig wird dieser Anspruch tatsächlich eingelöst. Dunja Bulinsky hat solche Lücken auch dadurch geschlossen, dass sie die "ungelehrten" Helfer, die zu Scheuchzers immensem Werk beitragen haben, in ihre Untersuchung mit einbezogen hat. Jäger, Bauern, Bergleute, Wirte und nicht akademisch vorgebildete Mineralien- und Fossiliensammler, die selten oder nie erwähnt werden, aber teilweise namentlich bekannt sind, waren durch ihre Informationen und Fundstücke eine nicht zu unterschätzende Quelle für den ordnenden und systematisierenden Polyhistor. Ihnen und ihren Beiträgen hat die Autorin ihr letztes Kapitel (155-170) gewidmet.
Ein Vergleich des komplexen Forschungsnetzwerks "Scheuchzer" mit anderen, frühneuzeitlichen Netzwerken, die ihren nucleus in der Familie von Gelehrten besitzen - anbieten würde sich die Nürnberger Astronomenfamilie Eimmart oder die deutsch-englische Familie Herschel - hätte den Rahmen der Arbeit gesprengt. Solche Vergleiche könnten den Gegenstand künftiger Forschungen zum practice turn bilden.
Einziger Wermutstropfen des Rezensenten nach der Lektüre dieser sehr gut lesbaren Arbeit ist das Fehlen von Personen- und Ortregistern. Bei der Fülle der vorkommenden Namen hätten sie den Wert der Arbeit noch gesteigert.
Andreas Kühne