Christian A. Müller: Werk oder Ware? Wirtschaftlicher Strukturwandel in der Tonträgerindustrie der Bundesrepublik zwischen 1951 und 1983, Frankfurt/M.: Campus 2020, 255 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51306-5, EUR 39,95
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Aktuell erlebt die Schallplatte eine ungeahnte Renaissance: In den USA generierte Vinyl im vergangenen Jahr erstmals seit fast 35 Jahren wieder mehr Umsatz als die Compact Disc, und auch in Deutschland nahmen in den letzten Jahren Plattenkäufe wieder zu, während der Absatz von CDs zurückging. Ihre Blütezeit hatte die Langspielplatte allerdings in den gut dreißig Jahren zwischen 1951 und 1983, und diese Phase steht auch im Zentrum von Christian A. Müllers Studie zum Strukturwandel in der westdeutschen Tonträgerindustrie.
Müller interessiert sich in seiner als Branchengeschichte angelegten Dissertation dafür, wie die Tonträgerindustrie mit strukturell ungünstigen Marktbedingungen umging. Als strukturelle Besonderheit wird eingangs zu Recht betont, dass sich Innovationen in der Branche "besonders häufig, schnell und intransparent" (11) ergeben, was insbesondere für die Künstlerverpflichtung und die damit verbundene Repertoireentwicklung zutrifft. Müller geht jedoch darüber hinaus und erörtert auch Neuerungen im industriellen Fertigungsprozess, der Logistik, im Marketing und in den Vertriebsstrukturen mit dem Ziel, langfristige Behauptungsstrategien der Unternehmen umfassend darzustellen. Nicht zuletzt aufgrund der äußerst ungünstigen Quellenlage ist es die erste Untersuchung dieser Art. Darin, das heißt in zahllosen kleineren und manch größeren neuen empirischen Einsichten, liegt ihr Hauptverdienst. Ein großer Wurf ist das kurze Buch jedoch nicht geworden.
Das liegt nicht zuletzt an der Struktur des Buches: Müller gliedert die Studie chronologisch entlang der Marktentwicklung in vier Phasen: der Wachstumsphase der 50er Jahre folgt ein Abschnitt der Stagnation in den 60er Jahren, ehe erneut eine Wachstumsdekade in den Mittelpunkt rückt und schließlich die Tonträgerindustrie 1979 in eine Krise stürzte, die erst mit der Einführung der CD 1983 wiederum ein Ende fand. Das letzte Kapitel zieht schließlich übergreifend einen knappen Vergleich mit der Tonträgerindustrie in der DDR. Die vier chronologischen Kapitel behandeln jeweils die verschiedenen Aspekte der Wertschöpfungskette. Wenngleich je unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, beeinträchtigt dieses Vorgehen Lektüre und Argumentationsschärfe gleichermaßen. Häufige Querverweise und Redundanzen sind so nicht zu vermeiden, während manch interessantes Unterthema wie etwa "der Arbeitsmarkt des Schlagersängers" weitgehend unabhängig von der Marktentwicklung erörtert wird; eine problemorientierte Gliederung wäre deshalb wohl die bessere Wahl gewesen.
Die Studie stützt sich im Wesentlichen auf Recherchen zu fünf Vertriebsfirmen (in Klammern die Mutterkonzerne): Deutsche Grammophon (Siemens), TELDEC (Telefunken und DECCA), Electrola (EMI), Philips (Philips) und Ariola (Bertelsmann), bis auf Bertelsmann alles Elektrotechnikkonzerne. Für diese war das Schallplattengeschäft zunächst Nebensache, ein "Sandspielplatz" (25), wie Ernst von Siemens zu sagen pflegte. Es diente der Werbung, dem Unternehmensprestige und dem Verkauf von Plattenspielern. Gewinnerzielung oder gar -maximierung waren zu Beginn der 50er Jahre noch sekundär; erst der Absatzaufschwung von wenigen Millionen auf mehr als 60 Millionen Platten am Ende der Dekade führte zu einer stärkeren Eigenständigkeit und ökonomischen Bedeutung der Vertriebsfirmen.
Als ein zentrales und mit der Zeit immer größer werdendes Problem identifiziert Müller die Repertoirebeschaffung im Bereich der sogenannten Unterhaltungsmusik; sie dominiert auch allgemein die Studie, wenngleich die spezifischen Herausforderungen im Klassiksektor ebenfalls konzise dargestellt werden. Grundsätzlich hatten die Firmen drei Optionen: Außer der Eigenproduktion konnten sie Songs aus dem Ausland lizenzieren oder aber diese neu und in deutscher Sprache einspielen. Während letztere Variante im Laufe der Zeit an Zugkraft bei den Konsument:innen einbüßte, wurden beide anderen Varianten stetig teurer: die Abhängigkeit von Künstler:innen bzw. ihren Managern, aber auch von internationalen, insbesondere angloamerikanischen Repertoiregebern stieg. Müller mahnt allerdings zurecht an, dass man das Ausmaß der musikalischen Amerikanisierung nicht nur an den Charts festmachen sollte: Während dort internationale Künstler:innen zu über 70 Prozent vertreten waren, machten sie nur gut die Hälfte des Branchenumsatzes aus - ein Wert, der durchaus mit der Ende der 60er Jahre einsetzenden Marktforschung korrespondierte. In einer Befragung aus dem Jahr 1970 zu musikalischen Geschmackspräfenzen schafften es Operette, Schlager und Volksmusik aufs Podest; Beat-Musik landete dagegen nur auf Platz 5. Zieht man noch Müllers überzeugenden Nachweis hinzu, wonach die Vertriebsfirmen ungeachtet von Diversifizierungsprozessen auf dem deutschen Markt mehrheitlich in deutscher oder zumindest europäischer Hand blieben, so hätte es sich durchaus angeboten, die gesamte Arbeit deutlich stärker gegen die populärkulturelle Amerikanisierungsthese der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu profilieren.
Stattdessen stellt Müller titelgebend die Frage nach der Schallplatte als "Werk oder Ware?" - und bleibt eine explizite Antwort darauf schuldig. Gleichwohl wird deutlich, dass mit dem Markteintritt der amerikanischen Miller International 1961 samt dessen neuen Marketing und Niedrigpreispolitik ein Sinneswandel in deutschen Firmen einsetzte, der den Warencharakter der Schallplatte in den Vordergrund rückte. Auch der Europäische Gerichtshof spielte einen Part in dieser Entwicklung, als er 1971 billigere Parallelimporte aus dem europäischen Ausland für zulässig erklärte und damit faktisch die Preisbindung im deutschen Tonträgermarkt aufhob: Die Verkehrsfreiheit der Ware ging vor das urheberrechtsähnliche Schutzrecht der exklusiven Verbreitung des Werkes durch den Hersteller. Und dennoch wartet Müller ganz am Ende mit einer Pointe auf, die zum Nachdenken anregt: Nur die Hälfte der Deutschen kaufte überhaupt Schallplatten, und nur 10 Prozent von ihnen, sogenannte Intensivkäufer, sorgten für das Gros der Nachfrage - Relationen, die eigentlich für Luxusgüter typisch sind und nach Erklärung verlangen.
Etwas klarer positioniert sich Müller zur Strukturwandeldebatte. Er zeigt auf, dass sich in der deutschen Tonträgerindustrie technischer, repertoire- und betriebsbedingter Strukturwandel durch den gesamten Untersuchungszeitraum zog, mit einem Boom in den 1970er Jahren (!), der der Branche Absatzsteigerungen von 50 auf 200 Millionen Platten sowie Wachstumsraten von fast 14 Prozent bescherte. Einen Übergang zu rein postindustriellen Arbeitsweisen oder gar einen Strukturbruch kann Müller für die Tonträgerindustrie nicht erkennen; stattdessen hätten sich im Musikmarkt industrielle Produktion und künstlerische Dienstleistung verschränkt. Zweifellos ein interessanter Befund, der einmal mehr die Eigenlogik der Musikindustrie belegt, hätte man sich auch zu diesem Aspekt eine vertiefte Auseinandersetzung gewünscht, die etwa auch die dargestellten alternativen und ja letztlich industriefernen Formen der Schallplattenproduktion der 70er Jahre in der Gesamtbilanz mitberücksichtigt.
Kurzum: Mit seiner Dissertation zur Tonträgerindustrie in der Bundesrepublik hat Christian A. Müller zweifellos Pionierarbeit geleistet, die freilich nach weiterer Forschung und Diskussion verlangt - nicht nur über kulturelle Amerikanisierung und wirtschaftlichen Strukturwandel, sondern auch über die Eigendynamik kreativer Arbeit.
Martin Rempe