Falko Bornschein / Karl Heinemeyer / Maria Stürzebecher (Hgg.): Der Wolfram-Leuchter im Erfurter Dom. Ein romanisches Kunstwerk und sein Umfeld (= Schriften des Vereins für Geschichte und Altertumskunde von Erfurt; Bd. 11), Neustadt a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Ph. Schmidt 2019, 281 S., ISBN 978-3-96049-070-8, EUR 19,90
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Es gibt Kunstwerke, die zwar seit Jahrhunderten sichtbar in Kirchen, Museen oder auf öffentlichen Plätzen ausgestellt sind und unwidersprochen als singulär bewertet sowie bewundert werden, aber in der kunsthistorischen Forschung kaum oder nur allgemein wahrgenommen werden. Zu einstimmig ist die über sie herrschende Meinung oder zu resigniert die Feststellung, dass man bei vielen Fragen nicht weiterkomme und diese daher offen bleiben müssten. Manche dieser Werke aber werden dann doch aufgrund von neuen Methoden, Erkenntnissen oder sonstigen Beiträgen aus dem wissenschaftlichen Dornröschenschlaf geweckt und entfachen plötzlich fächerübergreifende Diskussionen. In Hinblick auf mittelalterliche Bronzen erging es in den vergangenen zwei Jahrzehnten so der identitätsstiftenden Kapitolinischen Wölfin in Rom, die sich als ein mittelalterliches Objekt erwies [1] oder dem berühmten Taufbecken des Reiner von Huy in Lüttich (zwischen 1107 und 1118 gegossen), das zwischenzeitlich als byzantinische Arbeit des 10. Jahrhunderts oder als Stiftung für den Lateran in Rom gesehen wurde. [2] Gleichgültig, ob die neu formulierten Thesen wie bei der Wölfin infolge von fundierten, technischen Untersuchungen plausibel sind oder wie bei dem Taufbecken als historisch weniger wahrscheinlich ad acta gelegt werden, führten in beiden Fällen die Impulse zu neuen, detailorientierten Auseinandersetzungen mit dem jeweiligen Werk, wovon ihre Kenntnis nur profitieren konnte. So erging es in den letzten Jahren auch dem sogenannten Wolfram-Leuchter im Erfurter Dom, einer um 1160, wahrscheinlich in den Magdeburger Bronzewerkstätten hergestellten monumentalen Figur in Form eines stehenden Mannes mit seitlich ausgestreckten, Kerzenteller haltenden Armen auf einem zinnenbekrönten Podest.
Hohe Aufmerksamkeit genoss die Bronzefigur schon in der deutschsprachigen Forschung und populärwissenschaftlichen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die bekanntesten mediävistischen Kunsthistoriker jener Zeit wie Adolph Goldschmidt und Erwin Panofsky, Hermann Beenken und Hanns Swarzenski sowie zahlreiche andere diskutierten vehement grundlegende Fragen bezüglich der Datierung, stilistischen Einordnung und Ikonografie, bis es in jüngerer Zeit (mit nur wenigen Ausnahmen) stiller um das Objekt wurde - es kamen keine gravierend neuen Perspektiven hinzu. Recht überraschend trat 2016 aber, fast aus dem Nichts heraus, eine Forschergruppe am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt mit einer relativ neuen These an die Presse. Derzufolge soll die Bronzefigur ursprünglich kein Leuchter im Dom, sondern ein Torarollenhalter in der Alten Synagoge in Erfurt gewesen sein und den Hohepriester Aaron repräsentieren. Ausgangspunkt der Überlegungen, die erst Monate später wissenschaftlich publiziert wurden [3], war weniger das Objekt selbst, als eine gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Erfurt hergestellte Riesentora, deren Lesungen eine adäquate Halterung erforderten. [4] Die Bronze wäre dann 1349 im Zuge des Judenpogroms in die Marienkirche gelangt, wo sie in einen Leuchter umgewandelt und mit einer lateinischen Inschrift am Gürtel der Figur versehen worden wäre. Unbeachtet blieben hierbei etablierte kunsthistorische Erkenntnisse (wie die auf eine Entstehung um 1160 deutenden Stilanalysen oder formale Evidenzen wie der entfernte Teller für eine dritte Kerze im Nacken), epigrafische Feststellungen oder historische Zusammenhänge. Die These, von der Tageszeitungen und andere Medien berichteten, kochte in der breiten Öffentlichkeit hoch, die gar eine Restitution forderte.
In einer im Laufe des Jahres 2016 von der Erfurter Forschergruppe organisierten Tagung sollte dann die in dem Beitrag publizierte These interdisziplinär und international diskutiert werden. Dies geschah, wenngleich mit einem anderen Ergebnis, als von den Initiatoren und der Initiatorin anvisiert. Denn schnell stellte sich heraus, dass das Werk zweifelsohne - und wie schon lange angenommen - als Leuchter in einem christlichen, liturgischen Kontext des 12. Jahrhunderts entstanden ist. Die Fülle der Argumente und noch weitere, ergänzende Perspektiven liegen in dem 2019 publizierten Band vor. Die Herausgeberschaft haben andere übernommen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Leuchter neu und gänzlich ohne Polemik gegenüber der Forschergruppe am Max-Weber-Kolleg vorzustellen. Die elf Beiträge sowie die Einleitung und ein Resümee widmen sich den überaus komplexen Forschungs-, Objekt- und Rezeptionsgeschichten, der Ikonografie und der Kleidung der Figur, dem Inhalt und der Paläografie der Inschrift, der Funktion als Leuchter oder sie stellen technische Untersuchungen vor. Jeder dieser Texte ist äußerst erhellend und weiterführend für das Verständnis der Bronze.
Drei von ihnen seien kurz vorgestellt: So erläutert der Metallrestaurator Bernhard Mai in seinem das Ende der Diskussion um ein Judaicum bestimmenden Beitrag die im Vorfeld der Tagung durchgeführten technischen Untersuchungen (251-260). Die unter anderem strahlendiagnostischen Analysen zeigen auf, dass die namensgebende, zweizeilige Inschrift "WOLFRAMVS ORA P(RO) NOBIS S(AN)C(T)A DEI GENIT(R)IX // HILTIBURC VT DIGNI EFFICIAMVR GR(ATI)A DEI" ("Wolfram - Bitte für uns heilige Gottesgebärerin // Hiltiburc - dass wir würdig werden der Gnade Gottes") nicht nachträglich angebracht wurde, sondern bereits im Tonkern und demnach vor dem Guss angelegt war. Michael Matscha, Direktor des Bistumsarchivs Erfurt, stellt in einer breit gefächerten Studie der Inschrift heraus, dass aufgrund der Etymologie und Verbreitung der beiden Namen Wolfram und Hiltiburc sowie von zwei Urkunden aus den Jahren 1144 und 1157 (in denen Wolfram als Schultheiß genannt wird und die der Autor ausführlich historisch einordnet) und aus dem Bezug der Zeilen auf das "Salve regina" nahezu ausgeschlossen ist, dass die Inschrift erst nach der vermeintlichen "Verschleppung" in den Dom im 14. Jahrhundert ergänzt wurde (229-240). In dem zentralen kunsthistorischen Beitrag wiederum widerspricht der Kunsthistoriker Johannes Tripps der Deutung des Wolfram-Leuchters als 'isoliertes' Kunstwerk insofern, als dass er über die Gattungsgrenzen hinaus auf die Stiftung des Leuchters gemeinsam mit einer Glocke eingeht oder anthropomorph gestaltete liturgische Geräte, beispielsweise sogenannte Atzmänner, berücksichtigt (161-176).
Durch solche interdisziplinär verknüpften und in Dialog miteinander tretenden Ausführungen entsteht ein vollkommen neues, da komplexeres Bild des Wolfram-Leuchters. Gleichzeitig eröffnen sich mit diesem aktualisierten Forschungsstand weitere Fragestellungen, wie die Herausgeber und die Herausgeberin als eine Art Ausblick im Resümee festhalten (270). Diese greifen die älteren, schon im frühen 20. Jahrhundert formulierten Thesen beispielsweise nach den Werkstätten und dem Herstellungsverfahren neu auf. Zu ergänzen wären vielleicht noch die klanglichen Dimensionen, die offenbar in der Inschrift impliziert sind und zu einer multisensorischen Erfahrung des Werkes führen können. Die Diskussion um den Wolfram-Leuchter findet in dem herausragenden Band also ein gutes (vorläufiges) Ende.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt: Anna Maria Carruba: Die Kapitolinische Wölfin in Rom, in: Löwe, Wölfin, Greif. Monumentale Tierbronzen im Mittelalter, hg. von Joanna Olchawa, Berlin / Boston 2020, 121-164.
[2] Pierre Colman / Berthe Lhoist-Colman: Les fonts baptismaux de Saint-Barthélemy à Liège. Chef-d'œuvre sans pareil et nœud de controverses, Brüssel 2002.
[3] Julie Casteigt / Dietmar Mieth / Jörg Rüpke: Der Träger der Erfurter Riesentorahrolle: Eine religionsgeschichtliche Hypothese zu einem übersehenen Judaicum, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68 (2016), Nr. 2, 97-118.
[4] Gemeint war hierbei: Ms. or. fol. 1215, Berlin, Staatsbibliothek.
Joanna Olchawa