Klaus Brummer / Friedrich Kießling (Hgg.): Zivilmacht Bundesrepublik? Bundesdeutsche außenpolitische Rollen vor und nach 1989 aus politik- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven (= Außenpolitik und Internationale Ordnung), Baden-Baden: NOMOS 2019, 318 S., ISBN 978-3-8487-6396-2, EUR 64,00
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Glenn Mitoma: Human Rights and the Negotiation of American Power, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2013
Joe Renouard: Human Rights in American Foreign Policy. From the 1960s to the Soviet Collapse, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2016
Odd Arne Westad: Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 2019
Im Jahr 1990 führte der Politikwissenschaftler Hanns W. Maull den Begriff Zivilmacht ein. Aufbauend auf einer sozialkonstruktivistischen Rollentheorie, nach der die Außenbeziehungen eines Staates nicht nur von objektiven Faktoren bestimmt werden, sondern auch das Produkt gesellschaftlicher Sinnkonstruktionen sind, sollte diese Bezeichnung als Erklärungsansatz für das neue internationale Rollenverständnis des wiedervereinigten Deutschlands dienen. Kennzeichnend dafür sei demnach ein ausgeprägter Gestaltungswille, wonach das Land die internationalen Beziehungen mit Hilfe internationaler Institutionen und dem internationalen Recht gleichsam zivilisieren wolle, also die nicht-militärische Lösung von Konflikten fördere. Dazu sei Deutschland als Zivilmacht bereit, Autonomie abzugeben und sich an Prozessen interessenunabhängiger Normdurchsetzung zu beteiligen. [1]
In den zurückliegenden 30 Jahren hat sich der Begriff Zivilmacht zu einer Instanz in der Gegenwartsanalyse der deutschen Außenpolitik entwickelt, an dem sich die verschiedenen Bundesregierungen haben messen lassen müssen. Gleichzeitig hat sich Deutschland seit 1990 durch zahlreiche Auslandseinsätze der Bundeswehr von dem ihm seinerzeit zugeschriebenen zivilen Charakter immer weiter entfernt. Diese ambivalente Entwicklung nehmen der Politikwissenschaftler Klaus Brummer und der Historiker Friedrich Kießling zum Anlass, um den Begriff Zivilmacht drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung aus historischer und politikwissenschaftlicher Perspektive neu zu bewerten. [2]
Der dazu 2020 veröffentlichte Sammelband ist das Produkt einer interdisziplinären Tagung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und umfasst dreizehn Beiträge von Historikerinnen und Historikern bzw. Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern. Aufgrund des interdisziplinären Ansatzes spannt der Band einen weiten historischen und analytischen Bogen sehr diverser Beiträge, die durch die Klammer des Zivilmachtbegriffs nur lose zusammengehalten werden. Im Zentrum stehen die Fragen, welche Rolle(n) die Bundesrepublik im internationalen System besetzt(e), wie diese sozial konstruiert wurden und wie Rollenkonzepte sich vor und nach 1989 verändert haben. Dazu untersuchen einige Beiträge punktuell den Wandel des Rollenverständnisses der Bundesrepublik von ihrer Gründungsphase bis in die Gegenwart. Andere identifizieren und vergleichen unterschiedliche Rollenvorstellungen. Wieder andere fragen, wie die deutsche Geschichte Rollenerwartungen prägte. Insgesamt lädt der Band damit zu einer umfassenden Historisierung des Zivilmachtbegriffs ein.
Das Buch ist in vier Leitthemen untergliedert. Das Erste beschäftigt sich mit dem außenpolitischen Rollenverständnis der Bundesrepublik vor und nach 1989. Dominik Geppert und Hanns W. Maull arbeiten die Kontinuität von Denkmustern und Handlungsmaximen heraus. Geppert argumentiert, dass sich eine in der Bonner Republik wurzelnde mangelnde Identifikationsbereitschaft mit der Idee einer deutschen Nation auch im wiedervereinigten Deutschland fortsetzte und zum Motor der Europapolitik wurde. Maull, der 1990 den Zivilmachtbegriff für Deutschland und Japan einführte, versucht zu zeigen, dass dieses Konzept trotz der wachsenden Bereitschaft beider Staaten sich an militärischen Einsätzen zu beteiligen, auch heute noch als Erklärungsansatz des außenpolitischen Rollenverständnisses beider Staaten dienen kann. Besonders bemerkenswert ist der Beitrag von Gunther Hellmann, der das Konzept der Rollentheorie grundsätzlich in Frage stellt und vor einer Essentialisierung der Forschung warnt. Diese dürfe den Zivilmachtbegriff nicht unreflektiert übernehmen, um damit die deutsche Außenpolitik zu erklären. Das Zivilmachtkonzept beschreibe keine "Wahrheit", sondern sei ein Interpretationsansatz, der im Laufe der Zeit selbst zunehmend sinnstiftend gewirkt hätte. Der Politikwissenschaftler wirft damit als Einziger in diesem Buch einen kritischen Blick auf den Quellenbegriff Zivilmacht und hinterfragt dessen Potential als Analyseinstrument für die Zeitgeschichte.
Der zweite Teil des Bands setzt sich mit Rollenkonzepten und Ordnungsvorstellungen im europäischen und globalen Kontext auseinander. Sebastian Harnisch bespricht die europäische Wahrnehmung der deutschen Führungsrolle in der Finanz- (2008), Flüchtlings- (2015) und Krimkrise (2014). Andreas Plöger untersucht anhand der China-Perzeption in den langen 1960er Jahren die Entstehung der Idee einer multipolaren Weltordnung und wie sich Westdeutschland damals darin verortete. Kristina Spohr vergleicht die Rollenvorstellungen der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl und zeigt, wie sie von äußeren Krisen und Transformationsprozessen wie der Globalisierung oder der Wiedervereinigung geprägt wurden.
Der dritte Abschnitt behandelt die Rolle der Geschichte in der und für die Außenpolitik der Bundesrepublik. Ulrich Lappenküper zeigt anhand der (west-)deutsch-französischen Beziehungen, wie die Eigen- und Fremdwahrnehmung verschiedene Rollenbilder der Bundesrepublik prägte und wie sie durch Rückgriffe auf die Vergangenheit sowohl negativ als auch positiv beeinflusst wurden. Mladen Mladenov und Bernhard Stahl stellen in ihrem Beitrag die Hypothese auf, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs seit den 1990er Jahren die Beziehungen zu Serbien belastet und zu Kroatien begünstigt hätte. Andreas N. Ludwig und Caroline Rothauge untersuchen den Einfluss der Genozid-Debatte auf die deutsch-namibischen Beziehungen.
Im vierten Teil werden die innenpolitischen Komponenten von außenpolitischen Rollen mit Blick auf die Frage untersucht, ob das Zivilmachtkonzept nach wie vor gültig sei. Klaus Brummer, Christian Rabini, Katharina Dimmroth und Mischa Hansel analysieren dazu den Wandel von Sprechakten der Bundeskanzler bzw. Bundeskanzlerin sowie der Außenminister seit der Wiedervereinigung und fragen, ob sich darin eine "Normalisierung" des Rollenverständnisses abzeichne. Dabei können sie keine grundlegende Veränderung feststellen. Die letzten Beiträge beschäftigen sich mit den innenpolitischen Diskussionen über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Kai Oppermann untersucht in einer qualitativen Analyse die Regierungsdebatten über die Kampfeinsätze der Bundeswehr im Kosovo (1998-2002) und Afghanistan (2009-2013) und zeigt, wie die konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionspartnern geprägt wurden vom ständigen Abwägen zwischen Multilateralismus und Antimilitarismus. Diesen fortlaufenden Prozess des Austarierens deutet er als Wesensmerkmal der deutschen Zivilmachtkonzeption, die somit weiterhin Bestand habe. Patrick A. Mello nutzt hingegen quantitative Verfahren des Text Mining, um Bundestagsdebatten von 1990 bis 2018 auszuwerten und kommt zum Ergebnis, dass die Übereinstimmung mit dem idealtypischen Zivilmachtkonzept im Laufe der Zeit gesunken sei.
Aus Sicht eines Historikers lässt dieser Sammelband viele Fragen offen. Zwar zeigen die historischen Beiträge, wie sich der Konflikt in der alten Bundesrepublik zwischen der historischen Last des Zweiten Weltkriegs und der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung in Europa auf das Rollenverständnis der politischen Eliten in Westdeutschland auswirkte und zur Entstehung verschiedener Rollenkonzepte beitrug. Wie genau aber die Idee der Zivilmacht in der dynamischen Umbruchphase zwischen 1989/90 entstand und welche Wirkung sie entfaltete, bleibt unklar. Auch der Widerspruch, warum sich Deutschland als Zivilmacht definierte, während es zur gleichen Zeit anfing, sich an militärischen Einsätzen zu beteiligen, wird nicht überzeugend aufgelöst. Es bleibt somit offen, inwiefern sich der Quellenbegriff Zivilmacht als Analyseinstrument eignet, um die Politik der 1990er Jahre zu verstehen, oder ob sich darin nur ein altes Ideal der Bonner Republik widerspiegelte, welches die neuen bellizistischen Züge der Berliner Republik verschleiert und somit einer historisch kritischen Untersuchung der 1990er Jahre eher im Wege steht. Die Historisierung dieser Dekade anhand von Archivquellen hat gerade erst begonnen. Der vorliegende Sammelband liefert wichtige Grundlagen und schafft neue Anreize, die damals entstandenen Konzepte und Deutungsmuster, die bis heute unsere Politik, Kultur und Gesellschaft bestimmen, zu hinterfragen. [3]
Anmerkungen:
[1] Hanns W. Maull: Germany and Japan: The New Civilian Powers, in: Foreign Affairs 69, (1990) H. 5, 91-106.
[2] Sebastian Harnisch / Hanns W. Maull (eds.): Germany as a Civilian Power. The Foreign Policy of the Berlin Republic, Manchester 2001.
[3] Zur Kritik am Deutungsmuster einer "zivilen" Bundesrepublik siehe: Claudia Kemper: Alles so schön friedlich hier!? Die Geschichte der Bundesrepublik zwischen Krieg und Frieden, in: Frank Bajohr / Anselm Doering-Manteuffel / Claudia Kemper / Detlef Siegfried (Hgg.): Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, 361-375.
Peter Ridder