Birgit Kynast: Tradition und Innovation im kirchlichen Recht. Das Bußbuch im Dekret des Bischofs Burchard von Worms (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter; Bd. 10), Ostfildern: Thorbecke 2020, 544 S., ISBN 978-3-7995-6090-0, EUR 68,00
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Beichte und Buße waren über Jahrhunderte zentrale Institutionen christlicher oder sich christianisierender Gesellschaften. Kleine Sünder kamen hier in unmittelbaren Kontakt mit großen Lehren, und mancher Mönch lernte als Beichtvater schnell mehr über die "Welt", als er je wissen wollte. Diese Lernprozesse waren sicher oft unangenehm, aber Lernprozesse waren es, und für Historikerinnen und Historiker sind sie ausgesprochen interessant. Es führt kein direkter Weg von den Wüstenvätern zum reich geschnitzten Beichtstuhl einer Barockkirche; Bußbücher und verwandte Texte stellten aber bei allen Brüchen doch erstaunliche Kontinuitäten sicher. Die auffällige Sorgfalt, mit der sexuelle Klein- und Kleinstdelikte behandelt wurden, ist hier nur das bekannteste Beispiel von Normen, die ohne Kenntnis der langen Vorgeschichte noch befremdlicher wirken müssten, als sie dies ohnehin schon tun.
Für diese Entwicklung und Verbreitung von Verhaltensnormen spielte die Integration der frühmittelalterlichen Bußbücher in das allgemeine kirchliche (Straf-)Recht eine zentrale Rolle. Die zunächst für monastische Gemeinschaften entwickelten Normen wurden in kirchliche Rechtssammlungen aufgenommen, die das Leben ganzer Gesellschaften regulieren sollten. Eine ganz entscheidende Rolle kommt dabei ohne Zweifel dem weit verbreiteten Liber decretorum zu, den Bischof Burchard von Worms Anfang des 11. Jahrhunderts kompilierte.
Dem Bußbuch-Teil dieser Sammlung, und speziell dem darin enthaltenen langen Fragekatalog ("Hast Du dieses getan? Dann büße wie folgt..."), hat Birgit Kynast ihre in Mainz entstandene Dissertation gewidmet. Formal gesehen mag es sich nur um einen Kanon unter hunderten handeln (den fünften des 19. Buchs, daher kurz "XIX 5"), aber nicht nur enthält dieser Kanon beinahe 200 Fragen, sondern er bündelt gleich einem Brennglas Burchards Auffassung von Sünde, Strafe, Buße und Vergebung und war, wie oben angedeutet, nicht zuletzt aufgrund seiner weiten Verbreitung in ganz Europa ein Meilenstein in der Geschichte der christlichen Ethik.
Die ersten fünf, eher kurzen Kapitel stellen die Forschungsgeschichte, Quellenlage und das eigene Vorgehen dar, informieren über Burchard, sein Umfeld sowie sein Verständnis von Buße im Allgemeinen. Wichtig für die Arbeit sind vor allem zwei Ergebnisse der Forschung: Zum einen erlaubt es die Forschung zu den Bußbüchern und Rechtssammlungen des früheren Mittelalters, Burchards Quellen meist mit großer Sicherheit zu identifizieren und den Weg ihrer Überlieferung sehr genau nachzuzeichnen. [1] Zum anderen kennen wir heute, den Studien von Hoffmann und Pokorny sei Dank [2], Handschriften des Liber decretorum, die mit einiger Sicherheit noch unter Burchards Aufsicht entstanden sind, und deren Rasuren und Zusätze erkennen lassen, wo gleichsam noch in letzter Minute am Text gefeilt wurde.
Die folgenden Kapitel VI und VII stellen den eigentlichen Hauptteil der Arbeit (99-366) dar. Sie widmen sich einmal "Gestaltung, Aufbau und Inhalten" von XIX 5 insgesamt und einmal der Analyse spezifisch der Behandlung der Tötungsdelikte in diesem Fragenkatalog. Kapitel VI paraphrasiert die Fragen ausführlich und bettet sie in einen weiteren Kontext ein, so dass das Kapitel auch für Leser ohne nähere Kenntnis des mittelalterlichen Bußwesens gut verständlich ist und viele, auch recht bizarre Vorschriften als Ausdruck eines spezifischen und (wie Kynast mehrfach betont) konsistenten Verständnisses von Buße erkennen lässt. Dass Kynast sich dann (Kapitel VII) speziell auf die Tötungsdelikte konzentriert, hat seinen guten Grund darin, dass hier jene Fälle verhandelt werden, die für die Geschichte der Buße und des Strafrechts gleichermaßen zentral sind, nämlich die unterschiedliche Beurteilungen von Handlungen unter Berücksichtigung der jeweiligen Absichten. Die "niederen Beweggründe", die im deutschen Strafrecht bis heute ein wichtiges Merkmal von Mord im Gegensatz zum Totschlag bilden, sind das vermutlich bekannteste Beispiel dafür, wie wichtig diese Unterscheidung sein kann - und auch, wie schwierig es ist, solche "Absichten" gerichtsfest erfassen zu wollen. Burchards Liber decretorum trug zu diesen langfristigen Debatten entscheidend bei, wie Kynast immer wieder zeigt.
In diesen beiden Kapiteln analysiert Kynast den Fragekatalog nicht nur textimmanent, sondern untersucht immer auch Burchards Arbeitsweise durch Vergleich mit den jeweiligen Vorlagen und auch durch den Vergleich zwischen dem Fragenkatalog einerseits und der Behandlung der gleichen Delikte im restlichen Liber decretrorum anderseits. Beides hängt insofern zusammen, als Burchard in XIX 5 einerseits natürlich die gleichen Vorlagen nutzte wie schon für den übrigen Liber decretorum, andererseits aber auch die bereits fertiggestellten Teile des eigenen Werks weiter verarbeitete. In diesem Sinne kann XIX 5 auch zum Verständnis der Sammlung insgesamt beitragen: Wie ging Burchard mit der unterschiedlichen Behandlungsweise bestimmter Vergehen um, die er in Form von zwei oder mehr Kanones in seine Sammlung aufnahm? Welcher dieser Kanones spielte in dem von ihm selbst intensiv bearbeiteten Teil XIX 5 die größere Rolle? Ein sehr gutes Beispiel ist die Behandlung unabsichtlicher Tötungen, für die Burchard unterschiedliche Quellen heranzog und in Form einer "gestuften Buße" verarbeitete (223-232). Kynasts minutiöse Arbeitsweise zahlt sich hier besonders aus.
Burchards erklärtes Ziel, die Zuweisung von Bußen zu bestimmten Delikten möglichst widerspruchsfrei zu präsentieren, ist in der Forschung oft zitiert worden. Kynast macht klar, mit welchem Aufwand ein solches Programm in der Praxis verbunden war, wie komplex die vorhandenen Bestimmungen waren, wie gut Burchard diese kannte und wie schnell die "Arbeit mit der Tradition" zu neuen Inkonsistenzen führen konnte. Diese Arbeit durchzieht den gesamten Liber decretorum, zu Recht aber nennt Kynast XIX 5 "das Kondensat dieser Arbeit" (391), weil Burchard hier noch einmal das von ihm bereits in den anderen Büchern seiner Sammlung verarbeitete Material einer weiteren Konzentration und Glättung unterzog.
Burchard hat sich diese Arbeit nicht einfach gemacht, und da er seine Arbeitsmethode nicht offenlegte, teilweise sogar bewusst verschleierte, hat er es auch der Forschung nicht leicht gemacht, sein Vorgehen zu rekonstruieren. Auf Kynasts Monographie lässt sich zum Glück für den Leser nur der erste Teil dieser Aussage übertragen: Auch sie hat es sich nicht leicht gemacht, dafür aber ihre eigene Arbeitsweise offengelegt, ihre Argumentation detailliert belegt und am Ende zu klaren Ergebnissen zusammengeführt. Damit macht sie es dem Leser einfacher denn je, die Komplexität einer vorgratianischen Kirchenrechtssammlung zugleich zu verstehen und als Quelle für vielfältige historische Fragestellungen zu nutzen. Das ist ein beachtliches Ergebnis für eine Dissertation zu einer scheinbar kleinen und eher unbekannten Quelle.
Kynasts Studie schließt eine Lücke der Forschung zwischen den Arbeiten zur frühmittelalterlichen Buße einerseits [3] und den schwerpunktmäßig dem 12. und 13. Jahrhundert gewidmeten Studien zum kirchlichen Recht andererseits. [4] Sie bringt die spezialisierte Forschung voran und trägt zugleich zu übergreifenden Debatten bei. Wer sich mit dem mittelalterlichen Bußwesen gleich aus welcher Perspektive beschäftigt, wird das Buch mit Gewinn lesen.
Anmerkungen:
[1] Die wichtigsten Ergebnisse sind die im Corpus christianorum erschienenen Editionen mehrerer Bußbücher (durch Kottje, van Rhijn, Gaastra, demnächst Meens und Körntgen) sowie die neue Regino-Edition: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, hg. und übers. von Wilfried Hartmann (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters; 42), Darmstadt 2004.
[2] Hartmut Hoffmann / Rudolf Pokorny: Das Dekret des Bischofs Burchard von Worms. Textstufen - Frühe Verbreitung - Vorlagen (= MGH. Hilfsmittel; 12), München 1991.
[3] Neben den in Anmerkung 1 genannten Editionen siehe die ausgezeichneten Darstellungen bei Abigail A. Firey (ed.): A New History of Penance, Leiden 2009 und Rob Meens: Penance in Medieval Europe, 600-1200, Cambridge 2014.
[4] Grundlegend immer noch Stephan Kuttner: Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt (= Studi e testi; 64), Città del Vaticano 1935, wichtigste Monographie seither: Lotte Kéry: Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln / Weimar / Wien 2006. Speziell zu Gratian siehe auch Atria Ann Larson: Master of Penance: Gratian and the Development of Penitential Thought and Law in the Twelfth Century (= Studies in Medieval and Early Modern Canon Law; 11), Washington 2014.
Christof Rolker