Rezension über:

Warren Pezé (Hg.): Wissen und Bildung in einer Zeit bedrohter Ordnung. Der Zerfall des Karolingerreiches um 900 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 36), Stuttgart: Anton Hiersemann 2020, 455 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-7772-2024-6, EUR 118,00
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Rezension von:
Patrick Breternitz
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Breternitz: Rezension von: Warren Pezé (Hg.): Wissen und Bildung in einer Zeit bedrohter Ordnung. Der Zerfall des Karolingerreiches um 900, Stuttgart: Anton Hiersemann 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/35458.html


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Warren Pezé (Hg.): Wissen und Bildung in einer Zeit bedrohter Ordnung

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Der zu besprechende Sammelband geht auf zwei vom Herausgeber Warren Pezé organisierte Tagungen des Tübinger SFB 923 "Bedrohte Ordnungen" aus den Jahren 2017 und 2018 zurück. Eine Einleitung aus der Feder von Warren Pezé und eine Zusammenfassung von Sita Steckel rahmen drei thematische Blöcke von je vier Aufsätzen ein. In Abgrenzung von älteren Narrativen über das 10. Jahrhunderts als eine Phase des Niedergangs beschreibt Warren Pezé die Zeit um 900 als eine zwar bedrohte Ordnung, aber auch als eine Zeit, in der die zukünftige Entwicklung noch offen gewesen sei. Als besondere Probleme adressiert er die Krise der kulturellen Zentren infolge des Zerfalls des Gesamtreichs, die Rolle der monastischen und klerikalen Netzwerke für die Resilienz kulturellen Lebens und die Bedeutung dieser Umbruchszeit um 900 für langfristige kulturelle Entwicklungen.

Der erste Themenblock fragt nach karolingischer Kontinuität. Frédéric Duplessis arbeitet das Ende des 9. und das gesamte 10. Jahrhundert als eine Zeit der intensiven Beschäftigung und Abschrift der Satiren des Juvenal heraus, der nicht nur Aufnahme in den Kanon der Schulautoren fand, sondern in den Augen von Duplessis im 10. Jahrhundert sogar eine größere Bedeutung als Horaz besessen habe. Susan Rankin untersucht mit Reginos Epistola de harmonica institutione eine der wichtigsten Quellen der frühmittelalterlichen Musikgeschichte. Insbesondere stellt sie enge Bezüge zwischen Regino und der Sammelhandschrift Leipzig Rep. I 93, dem ältesten Textzeugen der Epistola, heraus. In Reginos Sorge um den korrekten Gesang im Gottesdienst sieht sie eine Reaktion auf eine von ihm als bedroht wahrgenommene Ordnung.

Im Hinblick auf die Bibelexegese beschreibt Sumi Shimahara die Zeit vom Ende des 9. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts als eine Phase der Sättigung. Ihre Studie zeigt die intensive Bewahrung von und Beschäftigung mit exegetischen Traktaten und Bibelkommentaren der Karolingerzeit, der nur eine marginale Produktion neuen Wissens gegenübergestanden habe. Warren Pezé beschreibt, wie um 900 nicht mehr Fürstenspiegel, sondern andere Quellenarten das Wissen über Königtum reflektierten und Ermahnungen an die Herrscher richteten. Trotz des formalen Wandels zeige sich einerseits eine starke Rezeption und inhaltliche Kontinuität zu den karolingischen Fürstenspiegeln und anderseits ein großes Bedürfnis nach Ermahnung an den König in einer Zeit der Bedrohung. Zudem präsentiert und ediert Pezé einen bisher unbeachteten, um 900 entstandenen Text über das Königtum, dessen Autorschaft er aufgrund kodikologischer und paläographischer Erwägungen entweder einem Fremden in Laon oder einer Person in St-Vincent in Metz zuschreibt.

Es folgen im zweiten Themenblock vier Aufsätze über den Entstehungsprozess von Wissen. Wilfried Hartmann, der eine Neuedition des Sendhandbuchs Reginos von Prüm vorbereitet und bereits mit einer Übersetzung und zahlreichen Studien zu dem Thema hervorgetreten ist, beleuchtet den Umgang Reginos mit seinen Vorlagen und den Prozess, wie aus tradiertem Wissen neues Wissen entsteht. David Ganz präsentiert im Rückgriff auf Bernhard Bischoff Übersichten über Kodizes, die im 9. und 10. Jahrhundert in Fleury geschrieben oder aufbewahrt wurden und arbeitet einzelne für Fleury spezifische Buchstabenformen heraus.

Franck Cinato würdigt das Wirken des Gelehrten Israel, der unter anderem als Lehrer Bruns von Köln wirkte. Cinato diskutiert die wenigen bekannten Eckdaten seines Lebens und die mit ihm in Verbindung gebrachten Werke, die einen Einblick in die Bildungsgeschichte der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ermöglichen. Mariken Teeuwen untersucht im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert annotierte Handschriften mit Werken des Boethius. Sie betont, dass die verwendeten Annotationstechniken größtenteils nicht neu, sondern schon im 8. und 9. Jahrhundert zu beobachten seien. Das Annotieren von Handschriften durch und für die Leser in der Zeit um 900 stehe in deutlicher Kontinuität zu der Zeit Karls des Großen.

Der letzte Themenblock untersucht lokale Reaktionen auf die postulierte globale Krise um 900. Pierre Chambert-Protat verfolgt die Entwicklung der Schule von Lyon nach Florus' Tod. Im Hinblick auf die Buchproduktion und die Unterrichtstätigkeit kann er keinen Bruch zur ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erkennen. Den größten Unterschied sieht er darin, dass die Gelehrten nach Florus nicht mehr namentlich in Erscheinung traten und keine Werke oder Briefe von ihnen überliefert sind. Das Erinnern guter Beziehungen zu den karolingischen Herrschern und das Verschweigen der Schattenseiten untersucht Felix Schaefer am Beispiel des Klosters Prüm und des Bistums Metz. Aufgrund der schnellen Herrscherwechsel in den Jahrzehnten um 900 sei versucht worden, aus historischer Königsnähe gegenwärtige Königsnähe zu konstruieren. Neben historiographischen und hagiographischen Werken bezieht Schäfer den berühmten Prümer Liber aureus in seine Überlegungen ein.

Die letzten beiden Beiträge widmen sich italienischen Themen. Es ist schade, dass Italien erst hier intensiver in den Blick gerät und sich in den ersten beiden Themenblöcken keine Aufsätze explizit der Situation südlich der Alpen widmen. Giorgia Vocino beschäftigt sich mit der ungarischen Bedrohung für das Königreich Italien, das früher als der nordalpine Raum von Ungarneinfällen betroffen war. Einen durch die Bedrohung ausgelösten kulturellen Bruch zur Karolingerzeit kann sie nicht erkennen. Vielmehr sei die nachkarolingische Zeit in Italien noch karolingischer als die karolingische Zeit selbst gewesen. Annette Grabowsky setzt sich mit der berühmten Leichensynode und den weiteren Auseinandersetzungen um Papst Formosus auseinander. Ein besonderer Schwerpunkt des Aufsatzes liegt auf den Traktaten des Auxilius, deren Neuedition Grabowsky 2021 vorlegte.

Sita Steckel fasst die Ergebnisse der Beiträge zusammen und ordnet den Sammelband theoretisch und methodologisch ein. Sie plädiert dafür, dass die Frühmittelalterforschung Narrative mittlerer Reichweite entwickelt und von großen Meistererzählungen Abstand nimmt. Zudem fordert sie die Mediävistik auf, sich noch stärker vom Eurozentrismus zu lösen und Handschriften aus Asien und Afrika stärker in die Erforschung der Transformationen von Wissenskulturen zu integrieren. Mehrere Register (Handschriften, Werke, Orte und Personen) runden den gelungenen Sammelband ab.

Bereits in der Einleitung betont Pezé, dass sich die Quellenlage um 900 änderte und nicht nur aufgrund der geringeren Anzahl an Quellen andere Zugriffe auf andere Quellengattungen notwendig werden. Der Sammelband trägt dieser Situation Rechnung, indem auf der einen Seite viele Beiträge direkt auf der Ebene der Handschriften argumentieren und auf der anderen Seite neben historischen Fragenstellungen auch mittellateinische, kodikologische, theologiegeschichtliche und musikologische Forschungsansätze integriert wurden. Der facettenreiche und im besten Sinne des Wortes interdisziplinäre Band vereint nicht nur interessante Detailstudien, sondern trägt darüber hinaus auch dazu bei, die Umbruchphase um 900 als Ganzes besser zu verstehen.

Patrick Breternitz