Waltraud Schreiber / Béatrice Ziegler / Christoph Kühberger (Hgg.): Geschichtsdidaktischer Zwischenhalt. Beiträge aus der Tagung Kompetent machen für ein Leben in, mit und durch Geschichte in Eichstätt vom November 2017, Münster: Waxmann 2019, 340 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-3902-3, EUR 39,90
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Christoph Kühberger / Herbert Neureiter: Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017
Christoph Kühberger (Hg.): Ethnographie und Geschichtsdidaktik, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021
Ulrike Kipman / Christoph Kühberger: Einsatz und Nutzung des Geschichtsschulbuches. Eine Large-Scale-Untersuchung bei Schülern und Lehrern, Heidelberg: Springer-Verlag 2019
Der zu besprechende Sammelband sichert die Ergebnisse einer Tagung in Eichstätt, die im November 2017 stattfand. Die Forscher-Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein forderte damals auf, zehn Jahre nach der Publikation des Kompetenz-Struktur-Modells Bilanz zu ziehen und weitere Entwicklungsprozesse zu planen. Der disziplinäre "Zwischenhalt" sollte aus der Innenperspektive der FUER-Gruppe, aber auch aus der Außenperspektive gestaltet werden, um die Errungenschaften und die Desiderate und Schwachstellen der Wissenschaftsdisziplin "Geschichtsdidaktik" zu reflektieren. Letztendlich sollte ausgelotet werden, inwiefern das "narrativistisch-konstruktivistische Geschichtsverständnis" und das "Paradigma der Kompetenzorientierung" weiterhin "als tragfähig" für Forschung, Unterricht und Lehrkräftebildung gelten kann (9).
Der Sektionseinteilung der Tagung folgend ist der Band in vier Teile gegliedert: Zunächst stehen theoretische und begriffliche Konzeptionen im Hinblick auf das Historisches Denken im Vordergrund. Der zweite Teil ist dem Geschichtsunterricht gewidmet, wobei empirische Studien, theoretische Grundlegungen und auch digitales Lernen thematisiert werden. Teil III zielt auf die Lehrerbildung. Es geht u.a. um Möglichkeiten zur Erfassung von unterschiedlichen Wissensstrukturen bei Lehramtsanwärtern und um Konzeptionen in der geschichtsdidaktischen Lehre. Im vierten Teil wird an vier Beispielen die Erfassung von Kompetenzausprägungen vorgestellt.
Der Band enthält eine Vielzahl von Beiträgen, die in der gebotenen Kürze hier nicht angemessen besprochen werden können. Deshalb werden vier Aufsätze als Beispiele für die jeweilige Sektion herausgegriffen, um die Gestaltung und das Gelingen eines "Zwischenhalts" zu besprechen.
Béatrice Ziegler prägt mit den "Innenblicke(n)" die Beschäftigung mit dem Band. Sie greift zunächst die in der Wissenssoziologie erarbeiteten Prinzipien und Normen eines inneren Beschleunigungs- und Kontrollkerns von Wissenschaft heraus und lässt vor diesem Hintergrund in einer retrospektiven Betrachtung die Entwicklungen in der Geschichtsdidaktik Revue passieren. Dabei zeigt sie auf, wie weit die Kontexte in der Geschichtsdidaktik über diesen Normenkatalog hinausragen und verortet die Disziplin im Umfeld der postakademischen Wissenschaft. Sie thematisiert die in den Forschungsstandards institutioneller, disziplinärer Wissenschaft nicht berücksichtigten außeruniversitären Anforderungen und Akteure sowie die Beziehungen zu Nachbardisziplinen und fragt nach dem Verselbständigungsprozess der geschichtsdidaktischen Community in den vergangenen Jahren (22). Der competency turn habe mit der Bildung der FUER-Gruppe, so ihr Resümee, letztendlich die Entwicklung befördert, aber auch weniger gedeihliche Auswirkungen für die disziplinäre Community gehabt (24), weil Universalismus sowie Skeptizismus durch die Größe der Gruppe und etwaige Wir/Ihr-Verortungen eingeschränkt wurden. Die rege Beteiligung an der Tagung sieht Ziegler als Statement für Bereitschaft zur offenen diskursiven Auseinandersetzung über die Qualität von Forschung, über die geeignete Nachwuchsförderung und die bildungspolitischen Positionierungen. Eine Zielperspektive für die Disziplin könne im Konzept des "sozial robusten Wissens" liegen, indem Forschergruppen erweitert oder neu zusammengesetzt werden, Diskussionsräume transdisziplinär gestaltet und den Beteiligten innerhalb und außerhalb der Universität eigene Zugänge zugestanden und im gegenseitigen Austausch verhandelt würden, so Ziegler.
Die Beiträge im zweiten Teil referieren überwiegend in Kurzfassung oder Ausschnitten Ansätze, Erhebungsmethoden und Ergebnisse von Forschungsprojekten rund um den Geschichtsunterricht. Zülsdorf-Kersting beispielsweise stellt die Grundlagen und das Vorgehen bei der Erfassung von "metakognitiv-diskursiver Unterrichtsqualität" (176) in einem disziplinübergreifenden Projekt vor. Das Rating einer videographierten Unterrichtssequenz wird anhand von sieben Dimensionen vorgenommen. Diese umfassen die metakognitive Aktivität, Begründungszusammenhänge, die Funktion der Sequenz für das Fachgespräch, das Eingehen auf andere Beiträge/Positionen, den Grad der Diskursivität und die Debattenstruktur. [1] Das gewählte Beispiel bezieht sich auf die Vertiefungs- und Diskussionsphase in einer Doppelstunde, die mit geeigneten Impulsen und entsprechendem Lehr-Lern-Arrangement großes metakognitives Potential barg. Aufbauend auf einer Studie, die den Zusammenhang von kognitiver Aktivierung und dem Fördern historischen Denkens in den Stunden aufzeigte [2], lässt sich mit Hilfe des hoch inferenten Ratinginstruments Unterrichtsqualität erfassen.
In der Sektion zur Lehrerbildung führt Peter Gautschi aus, wie in Praxiszirkeln von Studierenden, Lehrkräften und Geschichtsdidaktikern die weithin formulierte Forderung nach theoriebasierter Praxis mit dem Leitbild des reflective practioner überzeugend realisiert werden kann. Auf den Innovationsschub im Hinblick auf das digitale historische Lernen bei der inhaltlichen Konzeption der App ""Fliehen vor dem Holocaust" sei zusätzlich verwiesen. [3] Die Praxiszirkel zeigen beispielhaft auf, wie sich um eine engere disziplinäre Community eine Community of Practice bilden kann, die all jene zusammenbringt, die an der Gestaltung und Erforschung von Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht beteiligt sind.
In der Sektion zur Erfassung von Kompetenzausprägungen zeigen Christiane Bertram, Wolfgang Wagner und Ulrich Trautwein die Bedeutung einer interdisziplinären Zusammenarbeit für die Geschichtsdidaktik auf. Jenseits der bereits veröffentlichten Studie zum Lernen mit Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, deren Grundparameter und zentrale Ergebnisse zusammengefasst und Ableitungen für die Unterrichtskonzeption im Sinne einer Kompetenzförderung vorgestellt werden, zeigen die Beiträger Forschungsperspektiven auf. [4] Beispielsweise soll ein Instrument entwickelt werden, mit dem die "Wahrnehmung der Aura der Zeitzeugen erfasst werden kann" (327). Ferner sollen offene Antwortformate für die Erfassung der Kompetenzen historischen Denkens durch digitale Auswertungsmethoden in Kooperation mit Computerlinguisten für die Forschung erschlossen werden.
Der Band ist eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die einen Einblick in das Panorama geschichtsdidaktischer Fragestellung in Theorie, Empirie und Lehrerbildung gewinnen wollen. In diesem Sinne kann auch eine leichte Enttäuschung über die knapp gehaltenen Darstellungen nicht zu schwer wiegen. Die Beiträge greifen die Gedanken eines "Zwischenhalts" an vielen Stellen auf, benennen Methoden und Ergebnisse und weisen Forschungsperspektiven aus. Bodo von Borries fordert beispielsweise die Erweiterung des FUER-Modells im Hinblick auf emotionale und ästhetische Geschichtskompetenz. Meik Zülsdorf-Kersting verdeutlicht die Dringlichkeit, eine Erfassung von Unterrichtsqualität als wichtiges geschichtsdidaktisches Aufgabenfeld auszuweisen, um eine forschungsbasierte Standardisierung von Niveaustufen vorzubereiten. Dieser Aspekt lässt sich noch ergänzen: Aus Perspektive des Geschichtsunterrichts stellt die systematische Förderung der Schülerkommunikation mit der Versprachlichung (meta-)kognitiver Prozesse eine große Herausforderung dar, zu deren Bewältigung eine Weiterführung der Modelle nötig ist. Das narrativistisch-konstruktivistische Geschichtsverständnis wird sicher eine bedeutende Grundlage der Diskussionen bleiben, jedoch benötigt es weitere Übersetzungs- und Umsetzungshilfen. Auch jüngste Studien zeigen auf, dass angehende Lehrkräfte Schwierigkeiten haben, die Grundlagen in angemessener Tiefenschärfe zu erfassen, zu verstehen und unterrichtspraktisch relevant zu machen. Fast scheint es sogar, dass sie im Geschichtsstudium (mit Praxisphasen) andere Überzeugungen entwickeln. [5] Solche Befunde müssen als Ausgangspunkt genommen werden, um nicht nur die Akteure in der Praxis mehr einzubeziehen, sondern auch die Zusammenarbeit mit der Fachwissenschaft zu verstärken. Zu diesem Austausch gehört auch eine allfällige Debatte (auf empirischer Grundlage) über die Bedeutung von Wissen für Lernerbiografien.
Der geschichtsdidaktische "Zwischenhalt" ist eine gute Grundlage, um zu weiteren Diskussionen auf "Meta-Ebene" anzuregen. Die Ausarbeitung von Wissenschaftsnormen ist ein wichtiges Anliegen für eine Disziplin, die vielfältige und komplexe Problemkontexte sowie inner- und außeruniversitäre Perspektiven integrieren und die Kooperation mit Nachbardisziplinen selbstbewusst gestalten muss. Die Reflexivität ist ein bedeutendes Element in diesem Prozess, der auf eine Systematisierung von Bewertungskriterien für (transdisziplinäre) Projektvorhaben und für Forschungsqualität ausgerichtet werden könnte. Ebenfalls unter dem Stichpunkt der Reflexivität wäre eine intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der Geschichtsdidaktik ein zusätzlicher Gewinn.
Anmerkungen:
[1] Meik Zülsdorf-Kersting / Anna-Katharina Praetorius: Geschichtsunterricht zuverlässig beurteilen. Vorstellung eines Beobachtungsinstruments zur Bestimmung von metakognitiv-diskursiver Unterrichtsqualität, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), 250-265.
[2] Elmar Cohors-Fresenborg [u.a.]: Klassifikation von metakognitiven und diskursiven Aktivitäten im Mathematik- und Geschichtsunterricht mit einem gemeinsamen Kategoriensystem, Osnabrück 2014.
[3] Fliehen vor dem Holocaust. Meine Begegnung mit Geflüchteten - Eine App für Jugendliche, verfügbar unter: https://www.erinnern.at/app-fliehen (zuletzt geöffnet am 26.05.2021).
[4] Christiane Bertram: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht: Chance oder Risiko für historisches Lernen? Schwalbach/Ts. 2016.
[5] Bodo von Borries / Andreas Zuckowski: Epistemologische Einsichten von Geschichts-Lehramtsstudierenden und Neuntklässlern in die "Grammatik historischen Denkens", in: Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft, hgg. von Jan Hoffrogge [u.a.], Frankfurt/M. 2021, 116-131.
Meike Hensel-Grobe