Bärbel Kuhn / Matthias Weipert (Hgg.): Region und außerschulische Lernorte im Geschichtsunterricht (= HISTORICA ET DIDACTICA. Fortbildung Geschichte; Bd. 11), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2019, 171 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-86110-743-9, EUR 24,80
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Die Entdeckung der Region in Geschichtswissenschaft und -didaktik ist ebenso neu wie alt. Dass Geschichte neben der zeitlichen Dimension immer auch eine räumliche besitzt, spielt in der Forschungspraxis traditionell eine große Rolle, ist aber durch den 'spatial turn' unter veränderten Vorzeichen erneut in den Fokus gerückt. Neue Perspektiven aus der Alltags- und Kulturgeschichte führten ab den 1970er Jahren zur selbstbewussten Entwicklung einer neuen Regionalgeschichte, die ihr gesellschaftliches Pendant im weiten Feld einer sich entwickelnden 'public history' fand und sich nicht zuletzt in der Entstehung und Öffnung außerschulischer Lernorte manifestierte. Umso verwunderlicher erscheint es da, dass sich der schulische Geschichtsunterricht in seinen Lehrplänen hartnäckig an den nationalen 'Meistererzählungen' festklammert und nur in Ausnahmen regionale Bezüge zulässt. Hier setzt der von Bärbel Kuhn und Matthias Weipert herausgegebene Band an. Er möchte aufzeigen, wie sich die Region und ihre Lernorte in den schulischen Unterricht integrieren lassen, wie sich also das didaktische Potenzial regionalgeschichtlicher Zugänge ausschöpfen lässt. Der Band geht auf eine Lehrerfortbildung an der Universität Siegen zurück. Die Autorinnen und Autoren kommen überwiegend aus der universitären Geschichtsdidaktik und den außerschulischen Lernorten, die Adressatinnen und Adressaten sind in erster Linie Lehrpersonen aller Schulformen. Hierin spiegelt sich das Anliegen, die oben beschriebene Kluft zwischen regionalgeschichtlichen Angeboten und schulischer Praxis zu überwinden.
Zwei grundlegende Artikel führen in die Thematik ein und stecken einen groben geschichtsdidaktischen und wissenschaftshistorischen Rahmen ab. Bärbel Kuhn und Matthias Weipert geben einen kurzen Überblick über den Bedeutungswandel von Raum und Region sowie der geschichtsdidaktischen Rezeption dieser Kategorien und ihren möglichen Beitrag für das historische Lernen. Von weiterführender Relevanz ist hier der Ansatz, dass regionales historisches Lernen über eine reflektierte Aneignung der Nahgeschichte zu einer ebenso reflexiven, statt bloß affirmativen Identifikation und Teilhabe führen kann, die insbesondere für die Heterogenität einer Migrationsgesellschaft offen ist (9-14). Jürgen Reulecke zeichnet die Entwicklung der neuen Regionalgeschichte als Kulturgeschichte der Region nach und zeigt die Impulse für die Geschichtsdidaktik jenseits der alten Heimatkunde auf (15-20).
Den Hauptteil bilden Praxisbeispiele außerschulischer Lernorte, die allesamt aus Nordrhein-Westfalen stammen, in ihrer Bandbreite und Vielschichtigkeit aber tragfähige Anknüpfungspunkte auch für andere Bundesländer und Regionen bieten. Das weite Spektrum zeigt sich auf mehreren Ebenen: Die Angebote beziehen sich sowohl auf die Grundschule wie auf weiterführende Schulen, die thematisierten Epochen reichen von der Antike über die Frühe Neuzeit bis ins 19. und 20. Jahrhundert, die inhaltlichen Zugänge erfolgen über politische Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte, Erinnerungskulturen und Biografien. Und schließlich werden als Lernorte historische Orte, Museen, Gedenkstätten, Archive und Dokumentationszentren vorgestellt. In den insgesamt zwölf Einzelbeiträgen werden diese Lernorte im Rahmen einer kurzen Sachanalyse bündig und informativ skizziert, in einen historischen Problem- und Fragezusammenhang eingeordnet und mit einem didaktischen Kommentar als Lernort erschlossen. Mit Blick auf die Hauptzielgruppe des Bandes werden zum Teil aufbereitete Quellen und Materialien, zum Teil konkrete Reihenentwürfe für den Unterrichtseinsatz ergänzt.
Da lokal- und regionalgeschichtliche Zugänge in der Praxis allerdings kein Selbstläufer sind und nach Anke John auch in didaktischer Hinsicht "mehrfach begründungsbedürftig" [1] erscheinen, bedarf es theoretischer Fundierungen. Diese stehen in dem Band, der primär für den Unterrichtsalltag konzipiert wurde, eher im Hintergrund. Gleichwohl beziehen sich die Beiträge teils explizit, teils von der Sache her auf die von Jürgen Hannig bereits 1984 vorgeschlagenen, dabei immer noch tragfähigen vier Kriterien für die Einbindung des regionalgeschichtlichen Zugangs in den Geschichtsunterricht: historische Exemplarität, regionale Individualität, methodische Elementarität und alltagsweltliche Kommunikabilität. [2] Die einzelnen Beiträge zeigen für ihre jeweiligen Lernorte auf, dass und wie diese Auswahlkriterien das besondere didaktische Potenzial regionalgeschichtlicher Themen und Lernorte markieren. So macht Helga Scholten deutlich (21-28), wie sich in den Römermuseen Haltern und Kalkriese die Begegnungsräume von Römern und Germanen exemplarisch erkunden lassen. Thomas Bartolosch stellt mit der Siegerländer Haubergswirtschaft als einer frühneuzeitlichen Form nachhaltiger Waldnutzung vor, dass in der Region auch das Besondere, vom Allgemeinen Abweichende seinen Ort hat (49-56). Inwiefern regionalgeschichtliches Lernen auch zum Aufgreifen und Fortführen erinnerungskultureller Diskurse beitragen kann, beleuchtet Matthias Opitz in seinem Beitrag zum Projekt 'ZEIT.RAUM Siegen', das Schülerinnen und Schüler auf die Spurensuche lokaler Erinnerungsorte schickt (81-86).
Auch die methodische Elementarität wird in den Beiträgen aufgegriffen, allerdings nicht in einem Maße, das dieses Potenzial außerschulischen Lernens annähernd ausschöpft. Die einzelnen Unterrichtsvorschläge berücksichtigen zwar Ortserkundungen, die Auswertung von Sachquellen beziehungsweise Rekonstruktionen sowie von Text- und Bildquellen, versäumen es aber, in aller Konsequenz aufzuzeigen, dass an außerschulischen Lernorten Kompetenzen in Realbegegnungen und das heißt hier an originalen Quellen geschult, vertieft und angewendet werden können und müssen, wie es in dieser Intensität im Schulunterricht weder möglich noch notwendig ist. Dieses Potenzial regionalgeschichtlichen Lernens vor Ort scheint damit noch nicht ausgeleuchtet.
In struktureller Hinsicht weiterführend ist der von Rouven Hallwaß vorgestellte Ansatz, eine Region durch die Kooperation verschiedener Akteure (Schule, Lernorte, Universität) als Bildungsnetzwerk zu konstituieren und somit als Lernraum zu erschließen (57-63). Das Beispiel der "Bildungslandschaft Siegen-Wittgenstein" ist ohne weiteres auf andere Regionen übertragbar und wird andernorts bereits erfolgreich praktiziert und bildungspolitisch gefördert. Auffallend ist, dass die Lernorte in den Praxisbeispielen mit einer Ausnahme ohne Einbindung digitaler Medien und Möglichkeiten erschlossen werden. In dem aktuellen Digitalisierungsschub durch die Corona-Pandemie entwickeln sich die Lernorte in dieser Hinsicht weiter und erproben, wie das Verhältnis von originalem und virtuellem Raum für das historische Lernen fruchtbar gestaltet werden kann.
Insgesamt schlägt der vorliegende Band überzeugende Brücken über die Kluft zwischen nationalgeschichtlich orientiertem Unterricht und den regionalen Lernangeboten. Eine umfangreiche Nutzung und Erprobung dieser Angebote ist zu wünschen - letztlich auch, um das didaktische Potenzial regionalgeschichtlichen historischen Lernens weiter auszumessen.
Anmerkungen:
[1] Anke John: Lokal- und Regionalgeschichte, Frankfurt a.M. 2018, 75.
[2] Jürgen Hannig: Regionalgeschichte und Auswahlproblematik, in: Geschichtsdidaktik 9/1 (1984), 131-141.
Wolfhart Beck