Benjamin Schulte: Veteranen des Ersten Weltkrieges. Der Kyffhäuserbund von 1918 bis 1933 (= Histoire; Bd. 172), Bielefeld: transcript 2020, 304 S., ISBN 978-3-8376-5089-1, EUR 55,00
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Im Zuge einer regelrechten Renaissance der Weimar-Historiografie haben paramilitärische Kampf- und Veteranenverbände in den vergangenen Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit der Forschung erfahren. Neben jüngst erschienenen Werken zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold [1] oder zur SA [2] sind dabei vor allem Benjamin Ziemanns Publikationen zum Veteranenwesen der Zwischenkriegszeit zu nennen [3]. Ein weitgehend blinder Fleck im Schatten der parteipolitisch orientierten Verbände blieb bislang jedoch eine der größten und langlebigsten Organisationen: der Kyffhäuserbund der Deutschen Landeskriegerverbände (kurz: Kyffhäuserbund). Dieses Desiderat füllt nun der Historiker Benjamin Schulte mit seiner an der Universität Köln entstandenen Dissertation zu "einer der am meisten unterschätzten Gruppen der Weimarer Republik" (25).
Schultes Arbeit verfolgt einen doppelten Anspruch: Sie möchte sowohl die "Konstruktion des Veteranen durch die Erfahrungsdiskurse des Ersten Weltkrieges" (30) nachzeichnen, als auch - im Sinne einer klassischen Organisationsgeschichte - die Rolle und Funktion des Kyffhäuserbunds in diesem Prozess untersuchen. Der Autor formuliert die These, dass der Austausch der ehemaligen Soldaten über individuelle und kollektive Kriegserfahrungen untereinander sowie das vom Verband öffentlich vermittelte Bild des Kriegsteilnehmers einen erheblichen Einfluss auf die Vorstellung vom Veteranen ausübten und damit die Debatten der Weimarer Republik beeinflussten. So stand der Kyffhäuserbund mit den anderen Wehrverbänden in einem harten Konkurrenzkampf um die Rolle als "maßgebliche Interpretationsinstanz" (28) zu Fragen hinsichtlich des Weltkriegs und der daraus zu ziehenden Konsequenzen.
Schulte gliedert seine Arbeit, für die er eine beachtliche Menge insbesondere an publizistischen Quellen ausgewertet hat, in vier Großkapitel: Nach einem einführenden Teil über die Geschichte des im Jahr 1900 gegründeten Kyffhäuserbunds vor und während der Novemberrevolution wird im zweiten Kapitel die Einflussnahme des Verbands auf Weltkriegsnarrative, Erinnerungskultur und Medien aufgezeigt - schlaglichtartig geschieht dies etwa anhand der Diskussion um die "Kriegsschuldlüge", des Konflikts um ein "Reichsehrenmal" oder der Verarbeitung des Kriegs auf der Kinoleinwand. Im dritten Kapitel untersucht der Autor den Kyffhäuserbund im "Möglichkeitsraum" (34) des politischen Alltags der Weimarer Republik. So gab der Verband etwa Stellungnahmen zu Fragen der Tagespolitik ab, positionierte sich bei Wahlen und bemühte sich um eine Verbreiterung seiner Mitgliederbasis durch die Einbeziehung von Jugendlichen und Frauen. Das vierte und letzte Kapitel widmet sich schließlich den Zukunftsvorstellungen des Verbands, gerade im Hinblick auf einen von vielen als unvermeidlich erachteten Revanchekrieg gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs.
Treffend skizziert Schulte den Schock, den die Ereignisse des November 1918 für die Mitglieder der Organisation darstellten. Circa 1,5 der 2,8 Millionen Angehörigen des Kyffhäuserbunds hatten während des Kriegs an der Front oder in der Heimat Militärdienst geleistet. Mit dem Sturz von Kaiser und Monarchie geriet der Verband in eine Sinn- und Identitätskrise, von der er sich erst allmählich erholte. Die tiefe Verunsicherung und Angst vor ausufernder Gewalt hätten ihn dazu veranlasst, seine Mitglieder zum Eintritt in die Freikorps aufzurufen, so der Autor. Schulte zeigt auf, wie sich die scharfe Kritik an den Friedensbedingungen von Versailles vor allem am berüchtigten Vertragsartikel 231 festmachte, der für den Kyffhäuserbund den "Kern des Friedensvertrages" (75) bildete. In seiner Agitation gegen das Versailler "Diktat" forderte der Verband unter anderem, allen Schülern außer einem Exemplar der Reichsverfassung auch einen Abdruck des Versailler Vertrags auszuhändigen, um diese an das fortdauernde Unrecht zu erinnern. Der erbitterte Kampf gegen die "Kriegsschuldlüge", die für den Kyffhäuserbund die "soldatische Ehre und das Selbstbild" (77) der Weltkriegsveteranen infrage stellte, schloss punktuelle Kritik an Vertretern des alten Regimes, die nach Bismarcks Sturz einen außenpolitischen Irrweg beschritten hätten, allerdings nicht aus.
Die Einflussnahme des Kyffhäuserbunds auf die Gedenk- und Erinnerungskultur der Weimarer Republik präsentiert Schulte exemplarisch an der Diskussion um das - letztlich nie verwirklichte - "Reichsehrenmal". Neben dem verbandseigenen Erinnerungsort auf dem Kyffhäuser plädierte die Organisation für eine zentrale Erinnerungsstätte, über deren Form und Standort aber zu keinem Zeitpunkt ein politischer Konsens hergestellt werden konnte. So pochte der Bund auf ein Denkmal in Gestalt eines Ehrenhains in Mitteldeutschland - ein Vorschlag, der aber (wie ähnliche Ideen auch) letztlich nicht realisiert wurde. Vielmehr übernahm das bereits 1927 von Reichspräsident Hindenburg (gleichzeitig Ehrenpräsident des Kyffhäuserbunds) eingeweihte Tannenberg-Denkmal die Funktion eines zentralen Gedenkorts, zu dem der Verband regelrechte Wallfahrten organisierte. Bezeichnend war auch die Position des Kyffhäuserbunds in der Diskussion um ein Verbot der Hollywood-Verfilmung von Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues". Der Verband stimmte hier in den Chor der rechtsnationalen Schmähkritik ein, indem er den Film und seine Vorlage als Ausfluss eines "Kriegserlebnis[es] der Schwachen [...], einer am Weltkriege zerbrochenen Generation" (136) denunzierte.
Wie der Verband zuweilen zwischen den politischen Parteien lavierte, führt Schulte am Beispiel der Reichspräsidentenwahl 1932 vor. Während noch 1925 Führung und Anhängerschaft des Kyffhäuserbunds gemeinsam den Kandidaten Hindenburg unterstützt hatten, zeigte die Wahl 1932 eine wachsende Entfremdung zwischen Verbandsführung und Basis. Ein Großteil der Mitglieder reagierte verärgert auf die aus Loyalität zum Ehrenpräsidenten ausgesprochene Wahlempfehlung für Hindenburg und stimmte stattdessen für Hitler. Diesem gelang es erfolgreich, sich als einfacher Soldat aus dem Schützengraben zu inszenieren und zahlreiche vormals konservative Wähler aus dem Kyffhäuserbund auf seine Seite zu ziehen. Geradezu hellsichtig und gleichzeitig verstörend wirken einige der Visionen, die der Verband während der 1920er Jahre in Erwartung eines zukünftigen Kriegs entwickelte. Klar erkannte der Kyffhäuserbund beispielsweise die Bedeutung einer strategischen Kriegführung inklusive der Zerstörung des gegnerischen Wirtschaftspotenzials und antizipierte damit etwa die Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig erging sich der Verband in Gedankenspielen über Chancen und Grenzen von Giftgaseinsätzen im Sinne einer "humanen" Kriegführung (211).
In seiner lesenswerten Studie zeichnet Benjamin Schulte ein vielschichtiges und differenziertes Bild des Kyffhäuserbunds, den er als "Konglomerat aus Traditionspflege und Kriegsgedenken, aus politischen und kulturellen Aktivitäten [...] [sowie] aus Wissenschaftsinteresse und Fortschrittsdenken" charakterisiert. Möglicherweise überschätzt der Autor allerdings die Bedeutung der von ihm behandelten Organisation im Vergleich zu den parteigebundenen Wehrverbänden, wenn er schreibt, erst der Kyffhäuserbund und seine Mitglieder hätten den Veteranen "erschaffen" (263). Dennoch bietet die Studie zahlreiche neue Einsichten und Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit dem Verband.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Sebastian Elsbach: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019.
[2] Vgl. Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, München 2019.
[3] Vgl. etwa Benjamin Ziemann: Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014.
Marcel Böhles