Michael K. Schulz: Sozialgeschichte der Danziger Juden im 19. Jahrhundert (= Potsdamer Jüdische Studien; Bd. 6), Berlin: BeBra Verlag 2020, 380 S., ISBN 978-3-95410-260-0, EUR 44,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Danziger jüdische Gemeinde gehört zu den wenigen Kehillot in Ostmitteleuropa, deren Archiv fast vollständig überliefert ist. Der Grund lässt sich auf den besonderen Status der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgen. Im Versailler Vertrag verpflichtete sich die Weimarer Republik, die Stadt und ihr Umland abzutreten, um dem neu gegründeten polnischen Staat Zugang zu einem Hafen zu ermöglichen. Die Siegermächte lehnten polnische Forderungen nach einer Annexion Danzigs ab, weil die Bevölkerung fast ausschließlich deutschsprachig war. Stattdessen wurde Danzig ein Mandat des Völkerbundes. Ein "Hoher Kommissar" vertrat die Interessen des Völkerbundes in der "Freien Stadt Danzig", die ein de facto unabhängiger Ministaat mit eingeschränkter Souveränität war. Bei den Wahlen im Mai 1933 erlangte die NSDAP die absolute Mehrheit der Stimmen im Danziger Parlament. Der besondere Status der Stadt erschwerte es der NSDAP anfangs, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Nach 1936 führte der schwindende Einfluss des Völkerbunds zu wachsendem Terror gegen die Danziger Juden. Wie im Reich forcierten die Danziger Nationalsozialisten die Auswanderung der Juden mit zunehmend brutalen Methoden. 1938/39 löste sich die jüdische Gemeinde schrittweise auf. Ihr Archiv wurde 1939 kurz vor dem Beginn des Krieges an die Jewish Agency übergeben und wird heute im Central Archive of the History of the Jewish People in Jerusalem aufbewahrt.
Michael K. Schulz geht in seiner vorliegenden Studie nicht auf die ungewöhnliche Überlieferungsgeschichte der Gemeindeakten ein. Angesichts der Fülle des vorhandenen Materials ist es in der Tat erstaunlich, dass die Geschichte der Danziger Gemeinde nur oberflächlich erforscht ist. Ein von Samuel Echt verfasster Überblick [1] weist Schwächen auf. Schulz kritisiert Echts Studie als "unprofessionell" und bezeichnet ihn herablassend als "Lehrer". (11) Der aus Ostpreußen stammende Echt lebte in der Zwischenkriegszeit in Danzig. Er war als Lehrer tätig und bekleidete mehrere Ämter in der jüdischen Gemeinde. Er emigrierte 1939 nach Großbritannien und später in die USA. Die unnötig harsche Kritik des Verfassers an Echts Studie demonstriert einen Mangel an Sensibilität. Es wäre lohnender gewesen, die Frage aufzuwerfen, warum die jüdische Geschichte von Danzig über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Auch an anderen Stellen der Studie finden sich unglückliche Formulierungen. So verwendet Schulz den Begriff "Parasiten" (ohne Anführungszeichen), um die Wahrnehmung jüdischer Migranten aus dem Russländischen Reich durch Danziger Juden zu beschreiben (248).
Trotz dieser Mängel repräsentiert die vorliegende Arbeit eine überaus detaillierte Analyse jüdischen Lebens in Danzig während des 19. Jahrhunderts. Es gibt keine vergleichbare Studie, die Lesern so umfassendes demografisches Material und statistische Analysen über eine mittelgroße jüdische Gemeinde in Ostmitteleuropa zur Verfügung stellt. Schulz hat die Jerusalemer Akten und Materialien in deutschen und polnischen Archiven teilweise akribisch ausgewertet. Die Studie verfolgt keine übergreifende Fragestellung. Schulz charakterisiert seine Monografie als "Nachschlagewerk" (307) und als "eine Art zweiter Teil" (10) seines Dissertationsprojekts über die Emanzipation der Danziger Juden zwischen 1807 und 1847. Das Fehlen einer Fragestellung erstaunt allerdings, weil die Entwicklung der Danziger Gemeinde vor und nach 1920 keineswegs typisch war.
Im Gegensatz zu vergleichbaren jüdischen Gemeinden in Memel, Königsberg und Stettin stagnierte die jüdische Bevölkerung Danzigs zwischen 1840 und 1914. 1840 lebten 2410 Juden in Danzig. Diese Zahl war vergleichsweise hoch. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs bewegte sich die Zahl durchgehend bei rund 2500 Personen. Der Anteil der Juden an der Danziger Gesamtbevölkerung ging im gleichen Zeitraum von 4,2 auf 1,2 Prozent zurück. Die Gemeinden in Memel, Königsberg und Stettin verzeichneten im gleichen Zeitraum einen Zuwachs. Schulz konstatiert, dass die stagnierende jüdische Bevölkerungszahl Danzigs sich vom starken Rückgang in kleineren Städten im preußischen Osten ebenso abhebe wie von den deutlich expandierenden Großstadtgemeinden wie in München, Köln und Frankfurt am Main. Auf mögliche Gründe für diese Entwicklung geht er nicht ein. Vielleicht beeinflusste der Mangel an wirtschaftlichen Aussichten die Abwanderung jüngerer Juden in größere Städte wie Berlin.
Im zweiten Kapitel präsentiert Schulz eine äußerst detaillierte Untersuchung der wirtschaftlichen Stellung der Danziger Juden während des 19. Jahrhunderts. Er zieht Vergleiche zu der intensiver erforschten jüdischen Gemeinde in Breslau, um zu klären, wie viele Juden zum Bürgertum gerechnet werden können. Das überlange dritte Kapitel behandelt die Organisation der Gemeinde. Danzig markiert auch hier einen Sonderfall. Aus Danzig im Jahr 1723 vertriebene Juden gründeten in mehreren Vorstädten kleine Gemeinden, und erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde Juden wieder das Recht eingeräumt, sich auch in Danzig niederzulassen. Bis 1883 existierten in der Stadt und ihrer Umgebung fünf verschiedene jüdische Gemeinden. Die Vereinigung der Gemeinden war - das ist kaum überraschend - lange umstritten. Die Darstellung dieser Geschichte ist für Nichtspezialisten verwirrend. Es bleibt unklar, wo sich die verschiedenen Vorstädte befanden. Die Studie enthält nur eine abstrakte und stark eingegrenzte Karte der Wohnorte von Juden im Danziger Zentrum. Weitere Kapitel behandeln die religiöse Entwicklung und das jüdische Vereinswesen. Im Kapitel über "Akkulturation" untersucht Schulz unter anderem das Danziger Schulsystem und die sich verändernde Vornamensgebung. In 16 Anhängen präsentiert er zusätzliches statistisches Material und Namenslisten. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Orts- und Namenregister runden die Studie ab.
Eine abschließende Bewertung fällt schwer. Die Arbeit eignet sich in der Tat als Nachschlagewerk, vor allem für vergleichende Studien. Anstatt der Frage nach der ungewöhnlichen Entwicklung der Danziger jüdischen Gemeinde(n) nachzugehen, verliert sich der Autor an vielen Stellen in detaillierten Analysen, die allenfalls für einen kleinen Kreis von Spezialisten von Interesse sein dürften. Weitgehend unerforscht bleibt das vielleicht spannendste Kapitel der jüdischen Geschichte Danzigs nach 1800, der Zeitraum von 1914 bis 1933. In den 1920er Jahren fanden Tausende von jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa in der "Freien Stadt" Zuflucht. Eine über Jahrzehnte stagnierende mittelgroße Gemeinde entwickelte unvermittelt ein völlig neues Profil.
Anmerkung:
[1] Samuel Echt: Die Geschichte der Juden in Danzig, Leer 1972.
Tobias Brinkmann