Cordula Seger / Jan-Andrea Bernhard (Hgg.): Die Ilanzer Artikelbriefe im Kontext der europäischen Reformation (= Züricher Beiträge zur Reformationsgeschichte; Bd. 28), Zürich: TVZ 2020, 336 S., 20 Abb., ISBN 978-3-290-18342-4, EUR 47,00
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Renate Dürr / Gisela Engel / Johannes Süßmann (Hgg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs, München: Oldenbourg 2003
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Frank Lestringant: Le Huguenot et le sauvage. L'Amérique et la controverse coloniale, en France, au temps des guerres de religion (1555-1589), Troisième édition revue et augmentée, Genève: Droz 2004
Die Ilanzer Artikelbriefe von 1523 und 1526 wurden zwischen den Vertretern des Graubündener Dreibunds (Ilanz, Chur und Davos) geschlossen und regelten vor allem die priesterlichen Pflichten, Pfründerechtsbeschränkungen einschließlich des gemeindlichen Bestimmungsrechts der Priester, sprachen dem Churer Bischof jedes Recht auf (Mit-)Bestimmung bei der Besetzung weltlicher Ämter ab, schafften die geistliche Gerichtsbarkeit (des Offizialats des Churer Weihbischofs) in weltlichen Belangen ab und beschränkten mit etlichen Detailregelungen Umfang und Übertragungsrechte des geistlichen Zehnten sowie der anderen bäuerlichen Lasten. In Augsburg gedruckt, gehörten die Artikelbriefe zu einer ganzen Reihe ähnlicher Forderungen oder Vereinbarungen, von denen aus dem Zusammenhang des Bauernkriegs von 1525 die 12 Artikel der Memminger Bauern die bekanntesten sind. Anders als diese letzteren traten die Ilanzer sofort in Kraft und stellen zusammen mit den "Schlussreden" des Churer Hauptpfarrers Johannes Comander (1525/6) die Kerndokumente der Graubündener Reformation dar: Die Artikelbriefe hatten eigentlich keinerlei theologischen Gehalt, sondern regelten Grundzüge von weltlicher und geistlicher Herrschaft neu. Getrennt hiervon übernahmen in der Disputation von Anfang 1526 Comanders Schlussreden zu großen Teilen Zwinglis Schlussreden von 1523 und damit die protestantische Ekklesiologie, die Abschaffung der katholischen Sakramentslehre, Fegefeuer, Zölibat, Bilderverehrung sowie die Konzeption der Eucharistie als Gedächtnismahl wie bei Zwingli (Beitrag Jan-Andrea Bernhard mit Synopsen der Thesen).
Der Sammelband vereint Beiträge, die versuchen, diese sehr lokal-Graubündner Bestimmungen in den größeren Kontext der europäischen Reformation(en) einzustellen (Bruce Gordon). Spurenelemente der direkten Rezeption und Wirkung bis ins siebzehnte Jahrhundert werden nachgewiesen, etwa im katholischen Mulegns 1595 (Randolph C. Head, 148) oder in der katholischen Kirche (Rom um 1650, Kapuzinermission, Beitrag Philipp Zwyssig, 177). Marc Aberle weist auf Referenzen auf die Schweiz in Appellen für Religionstoleranz und friedliche Koexistenz während der französischen Religionskriege hin (200), allerdings ist hier eher allgemein die Bi- oder Mehrkonfessionalität angesprochen als dass präzise die Ilanzer Artikel benannt oder zitiert würden. Ähnlich gibt es wohl enge Verbindungen nach Valtellina und Chiavenna, aber explizite Konfessionsanschlüsse (etwa an die Confessio raetica von 1553) lassen sich erst später genau belegen (86).
Florian Hitz weist in einem gelungenen quellenkritisch-revisionistischen Beitrag nach, dass die Parität der Bekenntnisse eigentlich erst ab dem Bundesabschied von 1557 gegeben war, während eine auf Ulrich Campbell zurückgehende Tradition sie vom 16. bis ins 21. Jahrhundert immer wieder auf den Bundesabschied von 1526 und die zweiten Ilanzer Arikel zurückprojizierte - wo eine solche klare Aussage zur Bikonfessionalität gar nicht gegeben ist.
Dass die Ilanzer Artikel weitgehend normative Kraft entfalteten, zeigt Saulle Hippenmeyer: Das Pfarrerwahlrecht fand sowohl auf evangelischer wie katholischer Seite Anwendung. Durch Verweigerung der Zehnt- und Zinszahlungen konnten die Gemeinden Druck auf die Herrschaften ausüben und so die Zehnt- und Patronatsrechte selbst erwerben; aus den so kommunalisierten Einkünften konnten dann Kirchen und Pfarrer bestallt werden (72).
Andreas Thier zeigt auf, wie die kirchenrechtlichen Regelungsmaterien der Ilanzer Artikel und ihre weitere Umsetzung in die longue durée des europäischen Kirchenrechts einzuordnen sind: Besonderheiten sind hier, dass der Gotteshausbund bei Wahl eines Bischofs etwa später (1541) Verpflichtungen schuf, die auf den ersten Blick hin den üblichen Wahlkapitulationen zwischen Domkapitel und Bischof im Moment der Wahl zu entsprechen scheinen, Thier betont aber hier die Selbstverpflichtung auch des Kapitels, die Drei Bünde in "ihren überkommenen Rechten und Glaubenslagen zu belassen" (46): keine Wahlkapitulationen also, sondern eher eine Art partikulare periodisch erneuerte Bistumskonstitution, über welche die Wirkung bzw. der Schutz der Ilanzer Artikel gleichsam eine Spiegelung in das Kirchenrecht hinein durch diese Selbstbeschränkungsverpflichtungen erfuhr, während das Bistum im Übrigen weiter in seinen Rechten belassen wurde.
Man hätte gegebenenfalls noch stärker vergleichende Beiträge einbinden können: Im Kontrast zu den nordalpinen und westeuropäischen Kämpfen und Aushandlungen um Konfessionsexistenz erscheint gerade das Graubündner Beispiel eher als ein Fall der 'Ausblendung' kontroverser Inhalte aus den Regelungen zugunsten konkreter Besitz-, Anspruchs- und Jurisdiktionsbegrenzungen allermeist noch in den ganz traditionellen Formen des Pfründe- und Bauernrechts, die gleichsam die Grenzen zogen, bevor die theologischen Inhalte selbst berührt wurden. Mehrfache 'Scheuklappen'-Normativierung zwischen den Bundesmitgliedern, zwischen Dreibund und Gotteshausbund, zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, um auf der Rechtsebene gar nicht so ganz präzise von Glaubensspaltung sprechen zu müssen. Disputationen und Artikel wurden getrennt, eine Festlegung auf die Elemente erlaubter und nicht erlaubter theologoumena, wie es etwa im Reich mit der Augsburgischen Konfession erfolgte, fand auf der Ebene der Verrechtlichung der Verhältnisse von geistlicher und weltlicher Gewalt nicht statt. Hieran hätten sich Fragen nach der frühen weitgehenden Befriedung und Immunisierung für die Explosivität des Konfessionellen stellen lassen können, um die Situation vor allem in den deutschsprachigen Gebieten der Schweiz nach Kappeln - zumindest im europäischen Vergleich - als Ausnahme erscheinen zu lassen (Natürlich meint das nicht, dass nicht ständig in Mikrokonflikten die Konfessionsproblematik präsent blieb und dass auch ein - nicht primär konfessioneller - Großkonflikt 1653 wieder so mitgeprägt werden konnte). Ohne diese Vergleiche mit anderen Typen von Konfessionspluralität und Verrechtlichung von Koexistenz vergegenwärtigt der Band hingegen in genauer regionalhistorischer Auslotung Graubündens Weg in die Geschichte von Reformation und konfessioneller Koexistenz der Neuzeit. Der Leser wird dankbar sein für die im Annex in neuhochdeutscher Übertragung angefügten Ilanzer Artikel und den Bundesbrief von 1524 im Wortlaut.
Cornel Zwierlein