Veronika Springmann: Gunst und Gewalt. Sport in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Berlin: Metropol 2019, 310 S., ISBN 978-3-86331-500-9, EUR 22,00
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Der Schriftsteller Edgar Kupfer-Koberwitz führte während seiner Dachauer KZ-Haft heimlich Tagebuch. Den Notizen fügte er wohl kurz nach der Befreiung 1945 ein "Wörterbuch" an, unter dem Lemma "Sport" heißt es dort: "[H]at nichts zu tun mit dem, was man sonst unter Sport versteht. - Bezeichnung für allerlei gymnastische Übungen, die man uns strafweise machen liess [...]. Wer umfällt wird erbarmungslos getreten" [1]. Doch 1943 hatte er in einer Mischung aus Erstaunen und Ironie im selben Buch notiert: "Im Lager spielen die Häftlinge jetzt auf dem Appellplatz Fussball. [...] Wir werden langsam ein Häftlings-Paradies" [2].
Diese widersprüchlichen Wahrnehmungen fasst die Geschichts- und Sportwissenschaftlerin Veronika Springmann in ihrer 2016 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg vorgelegten Dissertation über den Sport in nationalsozialistischen Konzentrationslagern mit den Begriffen "Gewalt" und "Gunst": Während das Lagerpersonal den Häftlingen beim "Sportmachen", wie das Strafexerzieren im KZ-Jargon hieß, alltäglich Gewalt antat, galt es als "Gunst" (15), wenn bestimmte Häftlinge an Sonntagnachmittagen Fußball spielen durften.
Bereits Forscher wie Klaus Drobisch, Günther Wieland und Nikolaus Wachsmann haben ausgeführt, dass das Exerzieren als "offizielle Strafe" in den "Lagerordnungen" vorgesehen war, "Sportmachen" oft aber auch aus Willkür befohlen wurde [3]. Die Historikerin Karin Orth hat zudem Fußballspiele und Boxkämpfe als Maßnahmen des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes interpretiert, mithilfe derer ab 1942/43 in den Konzentrationslagern ein System aus Belohnung und Auslese etabliert wurde: "Arbeitsfähige" Häftlinge sollten durch die Erlaubnis zur Teilnahme Leistungsanreize erhalten, Schwachen oder Kranken drohten Selektion und Ermordung [4]. Erstmals betrachtet Veronika Springmann nun die Ambiguitäten des Sports, "Gewalt" und "Gunst", in einem Zusammenhang und fragt, "in welcher Weise Sport als soziale Praxis den Alltag in den Konzentrations- und Vernichtungslagern strukturierte" (34). In ihrer Untersuchung orientiert sie sich weniger an der historischen Forschung als an soziologischen Studien wie Wolfgang Sofskys Schilderung des prototypischen Konzentrationslagers als "Ordnung des Terrors" [5]. Den Sport im KZ betrachtet sie dabei als soziale Praxis, die das "unhintergehbare" (16), ungleiche Verhältnis von Häftlingen und Wachpersonal sicherte ("doing difference"). Dazu interpretiert sie die Verbindung aus Sport und Gewalt in Anlehnung an Raewyn Connells Konzept der "hegemonialen Männlichkeit" [6] als Folge eines von Hegemonie, Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung bestimmten Männlichkeitsbildes ("doing gender").
Ihre Erkenntnisse stützt Springmann auf vielfältige Quellen. So analysiert sie die Propagandafotografien aus den frühen Lagern Oranienburg und Dachau, zieht Aussagen aus den Nachkriegsverfahren gegen SS-Kommandoführer der Konzentrationslager Esterwegen und Sachsenhausen heran und befasst sich vor allem mit Zeichnungen, Interviews und schriftlichen Zeugnissen ehemaliger Häftlinge. Die Autorin folgt dabei nicht einzelnen Lagerorten, sondern gliedert ihre Studie nach übergeordneten Fragen zum Sport in Konzentrations- und Vernichtungslagern (34). Dieser breitere, induktive Ansatz erweist sich als gelungen, auch wenn Springmann zur Einordnung ihrer empirischen Ergebnisse noch stärker zwischen Orten wie dem Ghetto Theresienstadt, den Tötungsstätten der "Aktion Reinhardt" und den vor allem in der Studie behandelten frühen Lagern und KZ-Hauptlagern hätte differenzieren können.
In einer Vorgeschichte blickt Springmann zunächst auf die Entwicklung des Exerzierens im Militär des 19. Jahrhunderts und in den Gefängnissen der Weimarer Republik zurück. Anschließend untersucht sie das "Sportmachen", den Fußball und das Boxen in den Konzentrationslagern des NS-Regimes. Preußische Armee und kaiserliche Reichswehr wollten wehrpflichtige Männer durch Drill ertüchtigen und zu Opferbereitschaft erziehen. Auch der Gefängnissport galt der "Körperzucht" der männlichen Strafgefangenen. Beim "Sportmachen" in den Konzentrationslagern ging es hingegen darum, die Häftlinge psychisch wie körperlich zu brechen. Die "Übungen" waren von vornherein so gestaltet, dass die Gefangenen scheitern mussten. Auf diese Weise stellte das Lagerpersonal "Distanz und Differenz" (87) her: Es verfestigte das Vorurteil von den "schwachen" Häftlingen und sah sich während des eigenen Wehrsports in seinem angeblich überlegenen Männlichkeitsideal bestätigt. Darüber hinaus diente das "Sportmachen" als Mittel, Gefangene zu "strafen", "auszusondern" und zu töten; Springmann spricht von einer "Praxis der Vernichtung, Folter und Selektion" (99). Weil die Aufseherinnen in den Frauen-Konzentrationslagern über keine Militärausbildung verfügten, ihnen das Exerzieren also fremd war, seien, so folgert Springmann, Varianten des "Sportmachens" dort erst eingeführt worden, nachdem sich die Aufseherinnen die Praxis von ihren "männlichen Kollegen abgeschaut" (127) hatten.
Fußballspiele hingegen sind nur für Männerlager belegt. Sie wurden von den Funktionshäftlingen organisiert, die Mannschaften bildeten sich meist aus den Arbeitskommandos, es formierten sich aber auch nationale Teams. Wie vor ihr schon Orth führt Springmann die 1942/43 erteilte Erlaubnis, solche Spiele abzuhalten, auf das ökonomische Kalkül der SS zurück. Im Gegensatz zum Fußball, der ein "momentanes Heraustreten aus dem sonstigen Alltag der Häftlinge" (203) ermöglichen konnte, waren - wie Springmann überzeugend nachweist - die von SS oder Funktionshäftlingen inszenierten Boxkämpfe Bestandteil der alltäglichen Gewalt: Boxer niedrigerer Gewichtsklassen mussten gegen kräftigere Gegner antreten - es ging nicht um fairen Wettbewerb, sondern um die "Inszenierung absoluter Macht und Selbstverherrlichung" (246). Opfer dieser Gewalt waren die Gefangenen am unteren Ende der völkischen Häftlingshierarchie sowie Schwache und Kranke.
Springmann folgert, dass der Sport damals wie heute "Vergemeinschaftung und Ausschluss, Integration und Selektion" (254) bedeutet habe. Den Zusammenhang zwischen Gefangenen-Kategorisierung und Gewalt veranschaulicht sie am Beispiel der Boxkämpfe. In einem Unterkapitel zum "Sportmachen" geht sie auch auf die besonderen Schikanen ein, denen jüdische Häftlinge ausgesetzt waren. Angesichts der SS-Vorstellungen von Männlichkeit, Härte und körperlicher Arbeit drängen sich darüber hinaus weitere Fragen auf: Welche Rolle spielten sozialrassistische und homophobe Motive, wenn Gefangene zum "Sport" gezwungen wurden? Welche konkreten Häftlingsgruppen schloss das KZ-Personal a priori von der "Gunst" des Fußballspielens aus? Um die Verantwortlichen klarer zu benennen, wäre zudem eine stärkere Differenzierung des von Springmann teilweise pauschal als "Aufseher*innen" (15, 107, 111, 250) bezeichneten Lagerpersonals nach Zuständigkeiten, Organisationen und Hierarchien wünschenswert gewesen. Ungeachtet dieser offenen Punkte fügt sich Springmanns Studie aber ideal in die Männlichkeitsforschung ein und ergänzt diese um ein prägnantes Beispiel zur Gewaltpraxis in den Konzentrationslagern.
Anmerkungen:
[1] Edgar Kupfer-Koberwitz: Dachauer Tagebücher. Die Aufzeichnungen des Häftlings 24814, München 1997, 477.
[2] Ebenda, 118.
[3] Klaus Drobisch / Günther Wieland: System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993, 117, 122, 205, 210 f. und 295, und Nikolaus Wachsmann: KL. A History of the Nazi Concentration Camps, New York 2015, 63 und 106.
[4] Vgl. Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, 197.
[5] Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993.
[6] Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999, 97-102.
Dirk Riedel