Rezension über:

Pauline Bachmann: Pure Leiblichkeit. Brasiliens Neokonkretismus (1957-1967), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2019, 335 S., ISBN 978-3-0343-3517-1, EUR 76,90
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Rezension von:
Miriam Oesterreich
Universität der Künste, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Katharina Jörder
Empfohlene Zitierweise:
Miriam Oesterreich: Rezension von: Pauline Bachmann: Pure Leiblichkeit. Brasiliens Neokonkretismus (1957-1967), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/35267.html


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Pauline Bachmann: Pure Leiblichkeit

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In ihrer zur Monografie ausgearbeiteten Dissertationsschrift arbeitet Pauline Bachmann den brasilianischen Neokonkretismus umfassend für den deutschsprachigen Forschungskontext auf. Wenn Positionen des Neokonkretismus mit seinen international bekanntesten Vertreter*innen Lygia Pape, Lygia Clark und Hélio Oitícica in europäischen (und US-amerikanischen) Ausstellungen, Katalogen und Publikationen der letzten Jahre durchaus vermehrt Beachtung gefunden haben, so fehlte eine grundlegende Aufarbeitung aus wissenschaftlicher Perspektive. [1] "Angesichts der jüngsten Tendenzen, Kunst und ihre Geschichte global zu verstehen und den Fokus auf transkulturelle Aushandlungen, Zirkulationen und Netzwerke zu legen, ist ein tieferes Verständnis des jeweiligen kulturellen Kontextes und seiner Setzungen unabdingbar" (14) schreibt Bachmann zu Beginn und leistet ebendies: eine differenzierte und detaillierte Kontextualisierung des brasilianischen Neokonkretismus in transkulturell sich überschneidende künstlerische Diskurse, politisch und gesellschaftlich konstituierende Situationen und künstlerische (Rezeptions-)praktiken.

Nach der theoretisch fundierten Einleitung diskutiert Bachmann im zweiten Kapitel die Bezugnahmen, Adaptionen, vor allem aber auch Distanzierungen und Weiterentwicklungen konstruktivistisch-konkreter europäischer Denkansätze in transkultureller Perspektivierung. So stellt sie besonders Mondrian und Max Bill sowie den brasilianischen Kunstkritiker Mário Pedrosa als wichtige Referenzen zur Entwicklung des neoconcretismo in "der Achse Rio de Janeiro - Sâo Paulo" in den frühen Jahren 1948-59 vor und zeigt die weitverzweigten Bezüge auf. Im dritten Kapitel beschäftigt sich die Autorin eingehend mit neokonkretistischen Raumkonzeptionen und diskutiert diese detailliert an Werkbeispielen Papes, Oitícicas und Clarks. Auch hierbei stellt sie gekonnt die intellektuellen Bezugnahmen und Kontakte zu Malevich, Mondrian, El Lissitzky und Tatlin heraus. In stringenter Argumentation zeigt sie die leiblich erfahrbare Raumkonzeption der Neokonkretist*innen als keineswegs 'immanent brasilianisch' auf, sondern im Gegenteil als intellektuelle Weiterentwicklung und Antwort auf europäische Denkansätze aus der konkreten Kunst.

Im vierten Kapitel verhandelt Bachmann die transmedialen und -disziplinären (vor allem diskursiven) Überschneidungen der Positionen Clarks und Oitícicas zwischen Malerei, Skulptur und Architektur als leiblich erfahr- und teilweise auch begehbare Räume. Diese Argumentation führt sie im fünften Kapitel für das Verhältnis von bildenden Künsten und Poesie weiter. Sie thematisiert das Buch sowohl als Ort künstlerischer Praxis als auch die Einbindung von Fragmenten und Werken konkreter Poesie. Anhand von Beispielen des Dichters Ferreira Gullar und Lygia Papes arbeitet sie heraus, inwiefern taktile Erfahrbarkeit in diesen Transgressionen im Sinne einer leiblich-haptischen Perspektive verhandelt wird.

Im sechsten und letzten Kapitel stellt sie schließlich die nach-neokonstruktivistischen Entwicklungen Gullars, Oitícicas und Waldemar Cordeiros hin zu unterschiedlichen Konzeptionen der arte engajada (gesellschaftlich engagierte Kunstrichtung in Brasilien) heraus und diskutiert hier auch Oitícicas Zusammenarbeit mit Favela-Bewohner*innen über seine Parangolés (textile karnevaleske Raumarrangements, die beim Tanzen getragen werden können) und Bólides (hölzerne oder gläserne Bauten, die das Licht skulptural gestalten).

Pauline Bachmann nimmt nicht nur erstmals umfassende Werkanalysen der Künstler*innengruppe vor, sondern positioniert den Neokonkretismus auch neu aus transkultureller Perspektive. So kritisiert sie geläufige Interpretationsmuster von Zentrum und Peripherie als andauernd kolonialistisch geprägt. Sie stellt den brasilianischen Neokonkretismus nicht als 'verspätete' Umsetzung konkreter Kunstansätze aus Europa in Brasilien vor, die in Kategorien des Einflusses immer auch eine zeitliche Komponente innehaben, sondern erklärt ihn im Gegenteil als eigenständige Auseinandersetzung mit und Weiterentwicklung von Denkansätzen der konkreten Kunst in Europa: "Die Denkfigur des Konkreten kippt in dieser Perspektive auf ganz entscheidende Weise, denn sie emanzipiert sich als eigenständige Erfahrungskategorie" (108). Dabei verfolgt sie stringent und überzeugend ihre zentrale These, dass konkret-konstruktivistisches Gedankengut in der Kunst Brasiliens zwischen 1957 und 1967 "zu einer Kippfigur" wird, "sodass Setzungen, die in den europäischen Avantgarden als stabil oder gegeben betrachtet wurden, variabel und verschiebbar werden" (17). Die Terminologie der Kippfigur als "bedeutungsambivalente Bilder oder visuelle Schemata, die sich auf mindestens zwei verschiedene Weisen sehen lassen" (17) eröffnen einen Interpretationsspielraum, der die künstlerischen Praktiken des brasilianischen Neokonkretismus als Teil vielschichtiger und einander überlagernder intellektueller Austauschprozesse konstituiert.

Eine besondere Leistung der Arbeit ist auch die Neubewertung des Neokonkretismus nicht als ausschließlich in den bildenden Künsten beheimatet, sondern als produktiven Austausch zwischen bildend-künstlerischen und poetischen Praktiken, in denen sowohl bildende Künstler*innen sich prozessual in solchen medialen Zwischenräumen verorteten, als auch die Werke selbst solche Transgressionen sichtbar machen. Darüber hinaus trägt Bachmann zu einer Dekolonisierung neokonkretistischer Kunst bei, indem sie die oftmals konstatierte genuin-südliche Tendenz sensorischer Sensibilität und Körperbezogenheit der Brasilianer*innen radikal revidiert und die Prämissen haptisch-taktil-leiblicher Erfahrbarkeit als Produkt und intellektuelle Auseinandersetzung mit Ansätzen europäischer Avantgarden detailliert nachverfolgt und argumentiert.

Die Kritik beschränkt sich fast ausschließlich auf formale Aspekte: So ist zum einen die Qualität der Abbildungen zu bedauern, die nicht die - in der Reproduktion visuelle - Erfahrbarkeit der Arbeiten widerspiegeln. Auch besteht ein disparates Verhältnis zwischen der Behandlung taktil-leiblicher Erfahrung und einer Verschiebung des Fokus - auch durch die Künstler*innen selbst - von der Produktion auf die Rezeption der Werke und der bildlichen Einbindung der Ausstellungskontexte. Kapitel 5.2 "Der Leib und der White Cube - kulturelle Kodierungen ästhetischer Erfahrbarkeit" diskutiert differenziert die Bedingungen taktiler Erfahrung in den neokonkreten Ausstellungen in den Jahren 1959-1961 und die Reflexion derselben durch die brasilianischen Künstler*innen, zeigt auf bildlicher Ebene allerdings keine Ausstellungsansichten - was auch einer lückenhaften fotografischen Dokumentation geschuldet sein dürfte, hier aber nicht thematisiert wird.

Leider spiegelt die Bibliografie am Ende des Textes in keiner Weise die vielfältigen Referenzen, die im Text aufgerufen und dort als Kurzzitate genannt werden. In der verkürzten Liste fehlen viele wichtige Positionen der Forschungsliteratur, was die Recherche genauer Titel beeinträchtigt.

Schließlich sei kritisch angemerkt, dass Gender-Aspekte des Neokonkretismus mit immerhin zwei prominenten Vertreterinnen (Clark, Pape) fast gänzlich unbehandelt bleiben. So wird lediglich an einer Stelle über die männliche Dominanz im Künstler*innen-Umfeld reflektiert (241), ansonsten bleibt der männlich kodierte Neokonkretismus unthematisiert.

Der marginalen Kritik ungeachtet sei unbedingt betont, dass Pauline Bachmann eine sehr erhellende und überzeugende Studie zu den transkulturellen Verflechtungen der brasilianischen Moderne vorgelegt und dabei eine differenzierte Kunstgeschichte der Leiblichkeit im Kontext neokonkretistischer Ansätze erarbeitet hat, die eine wichtige Forschungslücke schließt.


Anmerkung:

[1] Zum Beispiel Moderna Museet Stockholm: Time & Place, Rio de Janeiro 2008; Kunsthaus Zürich: Hot Spots, Zürich 2009; Schirn Kunsthalle: Brasiliana, Frankfurt 2013; Museu Colecâo Berardo: Hélio Oitícica, Lissabon 2012; MoMA: Lygia Clark. The Abandonment of Art, New York 2014; MMK: A Tale of Two Worlds, Frankfurt 2017/18.

Miriam Oesterreich