Thane Gustafson: The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2020, X + 506 S., 4 Kt., 8 Tbl., ISBN 978-0-6749-8795-1, USD 39,95
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In den letzten Jahren hat der Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2, die Russland und Deutschland durch die Ostsee verbindet, sowohl die Europäische Union (EU) als auch das deutsch-amerikanische Verhältnis stark belastet. Dabei stehen geopolitische Befürchtungen über eine zu starke Abhängigkeit vom russischen Gas sowie eine Schwächung der Ukraine durch die dann fehlenden Transitgebühren im Zentrum der Debatte. Mittlerweile konnten die Konfliktparteien die meisten Streitpunkte ausräumen, so dass eine Inbetriebnahme der Pipeline Ende 2021 möglich erscheint.
Die Auseinandersetzungen um Nord Stream 2 nehmen auch ein wichtiges Kapitel in Thane Gustafsons Buch über die europäisch-russischen Gasbeziehungen ein. Das Buch des an der Georgetown University in Washington lehrenden Politikwissenschaftlers geht jedoch weit darüber hinaus, denn er beleuchtet nicht nur den gegenwärtigen Stand und die zukünftigen Möglichkeiten der Gasbeziehungen als Brücke zwischen Ost und West, sondern auch ihre historische Entwicklung seit den Anfängen in den 1960er Jahren.
Dazu entwickelt Gustafson drei, sich zeitlich zum Teil überlappende Perspektiven. Zunächst stellt er den Beginn der kommerziellen Erdgasförderung in Westeuropa seit dem Ende der 1950er-Jahre dar. Im Fokus steht der niederländische Markt, wo sich die zentralen Geschäftspraktiken, wie etwa die Kopplung des Gaspreises an den Ölpreis, herausbildeten. Anschließend beleuchtet Gustafson aufbauend auf seiner Expertise als Russland-Kenner sehr anschaulich die Entstehung der sowjetischen Gasindustrie und die Rolle wichtiger Persönlichkeiten wie des langjährigen Ministers Aleksey Kortunov, der den Aufbau dieses Industriezweigs in der UdSSR entscheidend vorantrieb. Seit dem Ende der 1960er Jahre entstanden dann, zunächst von Österreich ausgehend, die (west-)europäisch-sowjetischen Gasverbindungen, die durch die Gas-Pipeline-Deals der 1970er und 1980er Jahre wirtschaftlich und politisch in neue Dimensionen vorstießen. Diese Vereinbarungen bestanden aus der Lieferung des Materials und des Know-hows durch westliche Firmen, die im Gegenzug langfristige Lieferverträge für das Erdgas erhielten. Insgesamt überschätzt Gustafson jedoch die Rolle der Gas-Pipeline-Deals für die Ostpolitik Willy Brandts. Die Vereinbarungen stützten den außenpolitischen Kurs zwar wirtschaftlich und passten gut in das ostpolitische Gesamtkonzept, sie standen aber sicher nicht im Zentrum der Ostpolitik, wie Gustafson behauptet.
Als zweiter Erzählstrang fungiert für Gustafson der Aufstieg neoliberaler ökonomischer Konzepte im westlichen Europa seit den 1980er-Jahren, die vor allem das Binnenmarktprojekt und die damit eng verbundene Bedeutungssteigerung der europäischen Wettbewerbspolitik angestoßen hätten. Auf diese Weise habe die EU die traditionellen Strukturen der Energieversorgung in Westeuropa aufgebrochen. An die Stelle von langfristig orientierten Geschäftsbeziehungen auf der Basis von Monopolen sei eine neue Form des Gasmarkts getreten. Der Handel finde jetzt vor allem über Spotmärkte statt, auf denen die Geschäfte, auch durch die neue Computertechnologie, transparent abgewickelt würden. Pipelineinhaber könnten zudem nicht mehr allein über ihre Infrastruktur verfügen, sondern müssten Dritten Zugang gewähren (Third Party Access). Diesen Abschnitt schildert Gustafson sehr ausführlich, weil sich durch die verschärfte Wettbewerbspolitik auch die europäisch-russischen Gasbeziehungen veränderten. Umso erstaunlicher ist es, dass er sich hier nur auf zeitgenössische Literatur, Autobiographien und Interviews stützt und die verfügbare historiographische Literatur über den Aufstieg des Neoliberalismus, das Binnenmarktprojekt und die Rolle der europäischen Wettbewerbspolitik nicht heranzieht. Dadurch hätte sich der überragende Einfluss, den Gustafson in diesem Bereich der britischen Regierung und den britischen Mitarbeitern in Brüssel zuschreibt, besser einordnen lassen.
Als dritte Perspektive beleuchtet Gustafson dann die Entwicklung der Gasbeziehungen nach 1990. Dabei nimmt er insbesondere die Transformation des russischen Energiesektors nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Blick. Gustafson hebt die wichtige Rolle des damaligen Ministers für Erdöl- und Gaswirtschaft Wiktor Tschernomyrdin hervor, der im Umbruch 1990/91 eine Zersplitterung der staatlichen sowjetischen Gasindustrie verhindert habe. Diese wurde dann als Gazprom-Konzern weitergeführt, dessen Leitung Tschernomyrdin übernahm. Gazprom habe sich in der Folgezeit vor allem auf den Export in die europäischen Märkte konzentriert, da dort der größte Gewinn zu erzielen war. Der Liberalisierung europäischer Energiemärkte habe man dann passiv gegenübergestanden und die Tragweite der Veränderungen unterschätzt. In den letzten Jahren habe sich Gazprom insbesondere durch von der EU-Kommission initiierte rechtliche Verfahren zwangsweise anpassen müssen.
Abschließend entwickelt Gustafson auf der Basis von Vergangenheit und Gegenwart der "gas bridge" zwei Szenarien für die zukünftige Entwicklung. Das erste Szenario basiert auf einer Extrapolation der bisherigen Trends und läuft auf eine goldene Zukunft für die Gasförderung hinaus, da Gas als Energieträger durch den Abstieg von Kohle und Öl sowie die Sicherheitsrisiken der Atomenergie notwendiger denn je sei. Die zugrundeliegenden ökonomischen Notwendigkeiten würden sich auch gegen mögliche politische Eingriffe in den Gasmarkt durchsetzen. Im zweiten Szenario dominiert der Umweltschutzgedanke im Zeichen des Klimawandels. Sollte sich diese Perspektive durchsetzen, wäre nicht nur ein zügiges Ende von Kohle und Erdöl vorauszusehen, sondern auch von Erdgas. Kurz- bis mittelfristig hält Gustafson das erste Szenario für wahrscheinlich; langfristig werde allerdings das Umweltszenario dominieren. Gas würde dann erneut als "Brücke" fungieren. Dieses Mal allerdings nicht nur zwischen Ost und West, sondern von den fossilen Energieträgern hin zu den erneuerbaren Energien.
Insgesamt entfaltet Gustafson ein beeindruckendes Panorama, das die durch das Gas gestifteten Verbindungen zwischen Westeuropa und der Sowjetunion/Russland aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Die bisherige Forschung wird vor allem durch die langfristige, bis in die Gegenwart reichende Perspektive ergänzt. Dabei zeigt sich, wie anpassungsfähig die Gasbeziehungen waren. Sowohl politische Instrumentalisierungen als auch wirtschaftliche Transformationen konnten ihnen nichts anhaben. Allerdings ist die im Zeichen des Klimawandels angestrebte Dekarbonisierung von anderer Qualität als die bisherigen Herausforderungen. Hier geht es nicht mehr um Adaption, sondern um die Existenz des Gasmarktes an sich. Die Gasbrücke zu den erneuerbaren Energien könnte sich daher aufgrund der jüngsten Entwicklungen zumindest in Europa als kürzer erweisen als von Gustafson angenommen.
Henning Türk