Johannes Kraus: Tradition und Pragmatismus. Herrschaftsakzeptanz und lokale Verwaltungspraxis im Dreißigjährigen Krieg (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit; Bd. 27), Göttingen: V&R unipress 2021, 498 S., ISBN 978-3-8471-1261-7, EUR 60,00
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Die als Dissertation in Erlangen und Frankfurt am Main entstandene Studie befasst sich mit der lokalen Verwaltungspraxis in der Oberpfalz während des Dreißigjährigen Krieges. Üblicherweise gilt diese Zeit wegen der katastrophalen Belastungen für die Zivilbevölkerung als äußerst krisenhaft für die kommunalen und territorialen Verwaltungen. Weil die Armeen von ihren fürstlichen Auftraggebern oftmals nicht ausreichend mit Geld oder Naturalien versorgt werden konnten, griffen Söldner immer wieder zu gewaltsamer Selbsthilfe, zu Brandschatzung, Plünderung und Raub. Unter Androhung oder Anwendung von Gewalt erpressten sie von Land- und Stadtbewohnern Lebensmittel, Zug- und Schlachtvieh, Geld und Gut. Das müsste, so die verbreitete Annahme, für das Ansehen der zivilen Obrigkeiten verheerend gewesen sein, konnten sie doch ihrer vornehmsten Pflicht, für den Schutz der Untertanen zu sorgen, in keiner Weise genügen.
Zu dieser populären Vorstellung entwickelt die Studie eine gut begründete Antithese. Im Zentrum der Untersuchung steht das Verwaltungshandeln lokaler Amtsträger im Austausch mit der Land- und Stadtbevölkerung, mit dem Militär, mit der Geistlichkeit aller drei Konfessionen und mit der Administration des bayerischen Herzogs Maximilian. Johannes Kraus hat für seine Analyse besonders konfliktträchtige Handlungsfelder ausgewählt: Konfessionspolitik, Einquartierung und Kontributionserhebung sowie Verbrechensbekämpfung, insbesondere Prävention und Verfolgung von Übergriffen des Militärs gegenüber Zivilisten. Und er kommt zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass auf allen Feldern Kooperationsbereitschaft der Untertanen überwog, weniger aus Treue zu den kommunalen oder fürstlichen Obrigkeiten, auch nicht aus Anhänglichkeit an eine Konfessionspartei, eher aufgrund eines Pragmatismus, zu dem es kaum Alternativen gab. Zwar konnten die lokalen Amtsträger durch Supplikationen an den Fürsten umgangen und dadurch einer begrenzten Kontrolle unterworfen werden. Dennoch büßten der Magistrat der Amtsstadt Neumarkt und die landesherrlichen Schultheißen in diesen kriegerischen Zeiten ihre Funktionen keineswegs ein. Sie blieben für alle Seiten - den bayerischen Landesherrn, den Adel, die Geistlichkeit, die Offiziere der dort operierenden Regimenter und die "einfache" Bevölkerung - unverzichtbare Ansprechpartner, die dafür sorgten, dass die oftmals konträren Ansprüche insoweit moderiert werden konnten, dass sie handhabbar und halbwegs tolerierbar wurden. Dabei half ihnen ihre intime Kenntnis der lokalen Verhältnisse, die wegen der Verheerungen des Krieges deutlich volatiler waren, als es Haushaltslisten, Seelenverzeichnisse und Steuerregister suggerierten. Ihr Wirken sorgte deshalb für die Akzeptanz der Herrschaftsverhältnisse, die sich auch auf das fürstliche Regiment übertrug.
Methodisch bedient sich der Verfasser im Werkzeugkasten der neueren Kulturgeschichte der Verwaltung, die praxeologische Herangehensweisen bevorzugt und das in den Quellen aufscheinende Handeln möglichst aller beteiligten Akteure zu erschließen versucht. Diese anspruchsvolle Methodik lässt sich nur in lokalen oder bestenfalls in kleinregionalen Zusammenhängen nutzen. Sie ermöglicht gleichwohl vorsichtige Verallgemeinerungen, indem der jeweilige Kontext einerseits auf lokale Spezifika, andererseits auf zeittypische Merkmale hin untersucht wird. Sie öffnet darüber hinaus den Blick auf die Formen administrativen Handelns und die ihnen zugrundeliegende Kommunikation.
Die vorliegende Studie löst diesen hohen methodischen Anspruch in geradezu vorbildlicher Weise ein. Verdeutlichen lässt sich das am Beispiel der Konfessionalisierung der Oberpfalz, die gleich mehrfach einen Konfessionswechsel aufgrund dynastischer bzw. politisch-kriegerischer Wechselfälle erlebte: Nach dem Jahr 1582, mit dem Herrschaftsantritt des Kurfürsten Johann Kasimir von der Pfalz, wurde die bis dahin dominierende lutherische Denomination allmählich vom Calvinismus verdrängt. Nach der Schlacht am Weißen Berge und der Flucht Friedrichs von der Pfalz im Jahr 1620 besetzten bayerische Truppen die Oberpfalz. Minutiös zeichnet die Arbeit nach, wie sich die Rekatholisierung durch die von Maximilian herbeigerufenen Jesuiten und Kapuziner vollzog, und welche Rolle die Konfession bei der Rekrutierung der neuen geistlichen und weltlichen Amtsträger spielte. Zunächst wurden die alten protestantischen Eliten nur beiseite gedrängt, ihr Bleiben im Land aber noch toleriert. Spielräume ergaben sich dabei vor allem für die adligen Besitzer von Hofmarken, die eine gewisse Autonomie zu wahren vermochten. Erst 1628, mit dem reichsrechtlich verbindlichen Antritt Maximilians als Landesherr, erging an alle Untertanen die Aufforderung zur Konversion, im Weigerungsfall erfolgte die Ausweisung. Die Studie führt zahlreiche Indizien dafür auf, dass sich ein Großteil der Bevölkerung zunächst zwar ins Unvermeidliche schickte, Katholizität aber lediglich vortäuschte, was sich vor allem in dem Moment erwies, als schwedische Truppen 1632 die Oberpfalz besetzten. Nach dem Ende dieses militärisch-konfessionellen Intermezzos fand jedoch eine wachsende Zahl von Untertanen Gefallen am Angebot des Barockkatholizismus, der mit seinen prachtvollen und sinnfälligen Ritualen einen überzeugenden Kontrapunkt zum tristen Kriegsalltag bot. Die differenzierten Befunde der Studie lassen somit Schlüsse zu über die recht begrenzte Prägekraft der Konfessionskirchen in der Region, zugleich aber auch - jenseits konfessioneller Zugehörigkeitsfragen - über das ausgeprägte spirituelle Bedürfnis nach Trost und christlicher Sinnstiftung.
Ähnlich differenziert stellen sich die Befunde zu den beiden anderen Untersuchungsfeldern dar. Auf der Grundlage vielfältiger Quellen schildert der Verfasser detailliert, dennoch nicht ermüdend, sondern flüssig argumentierend, wie sich die Einquartierung und die Kontributionserhebung im Verwaltungsalltag gestalteten. Ebenso deutlich arbeitet er heraus, wie militärische Strafverfolgung, Streifenwesen, Geleit, Salvaguardien und Ziviljustiz beim Schutz von Zivilisten vor Übergriffen des Militärs wirkten und wo sie versagten. Die Studie verdeutlicht, dass die Behörden die Zivilbevölkerung in Zeiten zugespitzter Krisen weder vor eigenmächtiger Ausplünderung, noch vor gewaltsamen Übergriffen wirksam schützen konnten, dass jedoch lange Phasen überwogen, in denen es allen Beteiligten geraten erschien, den örtlichen Amtsträgern zu überlassen, wie sie die Einquartierung und die Verpflegung von Söldnern und Pferden organisierten. Sie achteten dabei auf eine halbwegs faire Verteilung der Lasten, versuchten Übergriffe von Söldnern gegenüber der Bevölkerung zu verhindern, untersuchten gleichwohl vorkommende Delikte und meldeten sie den Offizieren bzw. dem Fürsten. Die Verhandlungsposition der Zivilbevölkerung in Stadt und Land war freilich denkbar schwach - letztlich konnte man lediglich mit Wegzug drohen, sollte einem nicht geholfen werden. Die zahlreichen Eingaben an den Magistrat von Neumarkt und an den fürstlichen Schultheißen verdeutlichen gleichwohl, dass deren Anstrengungen zu einem Ausgleich der Ansprüche beizutragen, erkannt und anerkannt wurden.
So kommt Johannes Kraus zu dem Schluss, dass im Dreißigjährigen Krieg die Grundlagen für den inneren Staatsbildungsprozess des 17./18. Jahrhunderts gelegt wurden, und dass hierbei die lokalen Amtsträger als Herrschaftsvermittler vor Ort einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet haben.
Stefan Brakensiek