Rezension über:

Holger Zaunstöck / Thomas Grunewald (Hgg.): Heilen an Leib und Seele. Medizin und Hygiene im 18. Jahrhundert (= Kataloge der Franckeschen Stiftungen; 38), Wiesbaden: Harrassowitz 2021, 328 S., 175 Farbabb., ISBN 978-3-447-11587-2, EUR 28,00
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Rezension von:
Pierre Pfütsch
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Pierre Pfütsch: Rezension von: Holger Zaunstöck / Thomas Grunewald (Hgg.): Heilen an Leib und Seele. Medizin und Hygiene im 18. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/36039.html


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Holger Zaunstöck / Thomas Grunewald (Hgg.): Heilen an Leib und Seele

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Die Medizingeschichte hat sich bereits des Öfteren mit den Gesundheitsvorstellungen des Pietismus auseinandergesetzt. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Arbeit von Katharina Ernst zur medikalen Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert [1] oder die von Jürgen Helm zu Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus. [2] Dem letztgenannten Zentrum des Pietismus widmet sich auch die Ausstellung "Heilen an Leib und Seele", in deren Kontext der umfangreiche Ausstellungskatalog entstanden ist. Konkret stehen die Franckeschen Stiftungen, die für Halle wohl bedeutsamste sozialfürsorgerische Einrichtung, im Zentrum des Bandes. Die einzelnen Beiträge weisen jedoch weit darüber hinaus. So geht es bspw. um pietistische Diätetik, den Umgang mit Heilpflanzen oder auch die Entwicklung der Hygiene im 19. Jahrhundert. Die Herausgeber und Autoren/-innen des Kataloges haben dabei ein klares Anliegen: Sie wollen pietistische Medizingeschichte nicht als bloße Fortschrittsgeschichte schreiben, sondern sie wollen sie in ihrer spezifischen Zeit verortet und verstanden wissen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Überwindung älterer medizinhistorischer Tendenzen.

Bereits bei der Gründung der Glauchaschen Anstalten, so der frühere Name der Franckeschen Stiftungen, wurde Medizin mitgedacht. In der Ausstellung und dem Katalog werden sie daher "als eine hygienisch-medizinische Gesamttopographie, die die Infrastruktur für die pietistische Leib-Seele-Medizin zur Verfügung stellen sollte" (13), verstanden. Diese hohe Bedeutung von Gesundheit innerhalb der Einrichtungen wird auch dadurch unterstrichen, dass genau dieses Thema als Ausstellung für das 300-jährige Jubiläum der Grundsteinlegung der Franckeschen Stiftung gewählt wurde.

Die Idee der "medizinischen Gesamttopographie" durchzieht auch das ganze Buch. In seiner Einleitung räumt Holger Zaunstöck gleich mit einem Vorurteil über das frühere Verhältnis von Medizin und Religion auf: Es gab keineswegs grundsätzlich eine fatalistische Haltung zu Gesundheit und Krankheit. Gesundheit galt als Fähigkeit, das Tagewerk zu verrichten. Krankheiten verstand man hingegen als Ermahnungen Gottes. Der einzelne Mensch hatte demnach in den Vorstellungen der Pietisten also durchaus die Möglichkeit, seinen gesundheitlichen Zustand zu beeinflussen. Damit hatten Gesundheit, Krankheit und die medizinische Versorgung auch in der Frühen Neuzeit einen wichtigen Platz im Leben der Menschen.

Nach der Einleitung folgt ein Aufsatz von Katrin Möller, der 450 Jahre Leben und Tod in Halle zusammenzufassen versucht. Dieser Beitrag ist für die historische Forschung durchaus als innovativ zu werten, denn es gelingt der Autorin auf eindrucksvolle Weise, unterschiedlichste Quellengattungen wie statistisches Material und autobiographische Schriften miteinander zu verbinden. So schafft sie es auf der einen Seite, lange demographische Linien zu Säuglingssterblichkeit, Epidemien, Sterblichkeitskrisen und Altersentwicklung herauszuarbeiten und auf der anderen Seite diesen Ergebnissen Individualität zu verleihen, indem sie einzelne historische Akteure zu Wort kommen lässt.

Den Kern des Kataloges bilden dann sieben Kapitel mit jeweils zwei thematisch zusammengehörenden Aufsätzen. Daran ist jeweils das Verzeichnis der Exponate der Ausstellung des Themenbereichs angeschlossen. Die Aufsätze sollen, so Holger Zaunstöck in seiner Einführung, Medizingeschichte, Pietismusforschung sowie Sozial- und Kulturgeschichte miteinander verbinden. Das ist mal mehr, mal weniger gut gelungen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Beitrag von Saskia Gehrmann, die anhand von Dienstinstruktionen, Verhaltensregeln, aber auch Protokollen und Notizen den medizinischen und pflegerischen Alltag in den Einrichtungen nachzeichnet und dadurch der alltäglichen Praxis auf die Spur kommt. Sie gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass der Pietismus in diesem Kontext eine eher untergeordnete Rolle spielte. Wichtig war es, den Ablauf eher pragmatisch, reibungslos und effektiv zu gestalten. Dabei wurde aber immer stark auf die Einhaltung der Hierarchien geachtet.

In einem achten und als Fazit fungierenden Aufsatz wendet sich der Mitherausgeber Thomas Grunewald nochmals den Glauchaschen Anstalten als medizinischer Gesamttopographie zu. Demnach werden die Stiftungen August Hermann Franckes, die in der Forschung in erster Linie als Bildungsanstalten verstanden werden, als medizinische bzw. hygienische Einrichtungen gedeutet, die auf die Gesunderhaltung von Seele und Körper ausgerichtet waren. Ganz im Sinne einer Topographie werden im Beitrag die Einrichtungen auf dem Gelände auf ihre gesundheitsfürsorgliche Funktion hin analysiert, was auch infrastruktur- und baugeschichtlich höchst spannend ist.

Will man Kritik an diesem voluminösen und ansprechend gestalteten Katalog üben, muss man schon nach der Nadel im Heuhaufen suchen: In der Einleitung, die ja letztlich als Hinführung zum Thema dienen soll, wird immer wieder vorausgesetzt, dass der Leser bzw. die Leserin mit dem Sinn und Wesen der Franckeschen Stiftungen vertraut ist. Für einen Ausstellungskatalog, der Themen auch neuen Leserkreisen weit über die Grenzen von Halle hinweg erschließen soll, wäre wohl eine etwas allgemeinere Einführung sinnvoller gewesen. Und der Beitrag von Thomas Grunewald, der sich vielleicht als eine Art Fazit verstanden wissen will, wäre auch zu Beginn des Buches gut platziert gewesen.

Nichtsdestotrotz ist die Lektüre des Katalogs jedem Leser und jeder Leserin, der oder die sich etwas näher mit dem Themenbereich Medizin und Pietismus auseinandersetzen will, wärmstens empfohlen. So eignen sich einzelne Kapitel hervorragend als sich dem Thema nähernde einführende Lektüre. Andere wiederum stellen Spezialstudien dar und liefern Antworten auf ganz spezifische Fragestellungen. Und zu guter Letzt visualisieren die vielen farbigen Abbildungen, Zeichnungen und Fotografien das Geschriebene sehr gut.


Anmerkungen:

[1] Katharina Ernst: Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003.

[2] Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus, Tübingen 2006.

Pierre Pfütsch