Andreas Lehnardt (Hg.): Das verbotene Purim-Spiel. Le-Haman aus Frankfurt am Main, Wiesbaden: Harrassowitz 2021, VIII + 235 S., ISBN 978-3-447-11602-2, EUR 58,00
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Purim-Spiele wurden vor dem gleichnamigen Fest zur Unterhaltung und Belehrung dargeboten. Mit dem vorliegenden Buch von Andreas Lehnardt wird die bislang in der judaistischen und historischen Forschung wenig beachtete Gattung des Purim shpils anhand einer in der Martinus Bibliothek Mainz aufbewahrten und wiederentdeckten Handschrift eines jiddischen Purim-Spiels aus Frankfurt am Main aus dem Jahre 1751 eingehend untersucht und analysiert. Das Manuskript trägt den Titel Le-Haman ("Über Haman") und stellt ein Ahashwerosh-Spiel dar. Als solches ist es eine dramatische Wiedergabe des biblischen Buches Ester. Die Besonderheit bei diesem Stück ist, dass es kurz nach der Aufführung in der Frankfurter Judengasse vom Rat der Stadt verboten wurde. Lehnardt spürt in seinem Buch den Gründen dieses Verbotes nach und ordnet das Stück kenntnisreich in die soziale Lage der Einwohner der Frankfurter Judengasse in der Mitte des 18. Jahrhunderts und insbesondere auch in das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zur christlichen Mehrheitsgesellschaft auf kultureller Ebene ein. Dazu analysiert der Autor in einem ersten Teil des Buches zunächst das Manuskript (1-54), um es dann in Form einer Edition im jiddischen Original samt deutscher Übersetzung dem Leser zu präsentieren (55-226).
Einleitend geht Lehnardt knapp auf den Forschungsstand zu dieser Gattung ein. Er betont, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem volkstümlichen Kulturelement Purim shpil bislang von ausgeprägten Vorbehalten gekennzeichnet gewesen sei, da man in der Vergangenheit die Purimspiele als "Ausdruck einer jüdischen Low Culture" (1) angesehen habe. Als nächstes skizziert Lehnardt die biblischen Hintergründe der Purimspiele (2f.), um hiervon ausgehend einzelne Purimbräuche zu erläutern (4-6). Insbesondere für Leserinnen und Leser, die im jüdischen Brauchtum unbewandert sind, erscheinen diese Ausführungen funktional. Zum Ende seiner diesbezüglichen Schilderungen betont Lehnardt, dass es seit dem 18. Jahrhundert zu einer besonderen Entwicklung von regelrechten Inszenierungen des Stoffes gekommen sei. Um die Gründe hierfür zu klären, geht der Autor auf die Entstehung und die Anfänge dieser regelrechten Inszenierungen von Purimspielen ein (6-9). Allerdings bleibt er einer Erklärung für das von ihm beobachtete Phänomen schuldig. Ursache hierfür sei laut Lehnardt aber das "nicht hinreichend" erschlossene Material einer Vielzahl von Purimspielen, die "ein kaum überschaubares und sehr vielfältiges Bild der dramatischen Variationsmöglichkeiten" böten (8).
Infolgedessen geht Lehnardt intensiv auf das Frankfurter Purimspiel ein, indem er zunächst die Überlieferungsgeschichte aufhellt (9-12), um anschließend die Ursachen für das Verbot des Spiels herauszuarbeiten (12-17). Hier kann er sehr überzeugend darlegen, dass es sich um keine antijüdische Maßnahme des Frankfurter Senats gehandelt hatte, sondern dass das Verbot eher in den Kontext der verheerenden Brände in der Judengasse von 1711 einzuordnen ist und demnach eher rein praktischen Erwägungen folgte. Dass das Verbot und die Argumentation bzgl. der Feuergefahr von jüdischer Seite ausgingen, ist angesichts des kollektiven Traumas in der jüdischen Gemeinde nicht verwunderlich. Eher konstruiert erscheint dagegen der vom Autor prominent angeführte Zusammenhang, dass das Verbot eine Folge der innerjüdischen Auseinandersetzungen im Zuge der Kulp-Kann'schen Wirren gewesen sein soll. Hierzu möchte der Rezensent aber unten in allgemeiner Perspektive einige Aspekte benennen.
Auf den folgenden Seiten geht Lehnardt kenntnisreich auf die äußere und innere Analyse des Manuskriptes ein. Es sind die wohl stärksten Kapitel dieses Buches: Neben einer genauen Darstellung des Manuskriptes (17) und einem Vergleich mit anderen Purim shpiln wie vor allem einer Handschrift aus Amsterdam (1650) (18-38) analysiert Lehnardt intensiv die Inszenierung (S. 38-40), die Charaktere (40-43) und die Sprache (44f.). Abgerundet werden seine Ausführungen durch einen interessanten wie erkenntnisleitenden Vergleich mit christlichen Spielen (46-48) und abschließenden Hinweisen zu Edition und Übersetzung (49-54). Zentrale Erkenntnisse dieser Kapitel sind, dass das Spiel einerseits volkstümlich inszeniert ist, aber andererseits auch zahlreiche neuzeitliche sprachliche und kulturelle Einflüsse aufnimmt. Hierzu gehören neben Anklängen aus dem lokalen Dialekt sogar juristische Floskeln und Fachbegriffe (44f.). Zum dritten kann Lehnardt sogar eine bemerkenswerte Parallele in christlichen Fastnachtspielen ausmachen (46).
Insgesamt ist das Buch sehr gefällig, die Edition und die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zur Edition profund zusammengetragen und luzide verfasst. Auch der Leser ohne Vorbildung wird mithilfe der Ausführungen Lehnardts in diese Thematik eingewiesen. Gleichwohl müssen einige Monita angebracht werden. Exemplarisch sei hierzu die Frage noch einmal aufgeworfen, ob die Kulp-Kann'schen Wirren ausschlaggebend für das Verbot des Purimspiels waren. Als Beleg hierfür zieht Lehnardt die personellen Überschneidungen heran: So habe Josemann Worms als Parteigänger Kulps die Beschwerde vor den Senat gebracht und der Senat wollte angesichts der auch gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem Verbot konsequent zugreifen (14f., 16). Mit Ausnahme einer Befriedung der Gemeinde durch den Senat kann Lehnardt hierfür in den Augen des Rezensenten aber keine Belege liefern. Der Grund hierfür liegt in der hermeneutischen Anlage des Bandes: Aus der Sicht des Rezensenten lesen sich die Untersuchungsergebnisse Lehnardts als ein Beispiel für das konfliktfreie Zusammenwirken christlich-jüdischer Existenz in einer damaligen Großstadt wie Frankfurt am Main. Lehnardt selbst umschreibt dies mit einer "Interferenz christlicher und jüdischer Bräuche" (3). Beispiele hierzu bietet das Buch einige. Die hätte es aber intensiver herauszuarbeiten gegolten. Doch diese Perspektive gerät durch die dominante sprachwissenschaftliche Analyse des Textes leicht in den Hintergrund. So hätte sich der Rezensent gewünscht, mehr über die durch das Purimspiel vermittelten "moralische[n] Vorbilder" (47) zu erfahren. Das führt auch zu historischen Fehlern wie dem, dass das eigentlich in Speyer bzw. Wetzlar residierende Reichskammergericht in Wien angesiedelt wird. Dabei wurden die Prozesse um die Kipper und Wipper insbesondere am Reichshofrat in Wien geführt (14f.).
Gleichwohl muss abschließend betont werden, dass es Lehnardt mit diesem Buch geschafft hat, eine bislang vor allem in der historischen Forschung wenig beachtete Quellengattung prominent zu platzieren. Das Buch wird Anlass dazu geben, volkstümliche Formen des Zusammenlebens zwischen Juden und Christen näher unter die Lupe nehmen zu müssen, will man ein annäherndes Verständnis davon entwickeln, wie eben dieses Zusammenleben zwischen beiden Bevölkerungsgruppen abseits von Verfolgung und Stigmatisierung funktionierte. Insofern liefert es einen kleinen Beitrag zur Erforschung der Juden nicht nur als passiv erduldende Objekte, sondern als agierende Subjekte in der christlichen Mehrheitsgesellschaft.
André Griemert