Anna Becker / Almut Höfert / Monika Mommertz u. a. (Hgg.): Körper - Macht - Geschlecht. Einsichten und Aussichten zwischen Mittelalter und Gegenwart, Frankfurt/M.: Campus 2020, 440 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-593-51319-5, EUR 49,00
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Die Geschlechtergeschichte hat sich in den letzten Dekaden stetig ausdifferenziert - mit weit gefächerten Fragestellungen und theoretisch-methodischen Zugängen. Wie umfangreich Forschungsprogramm und -potentiale sind, vermag der von Anna Becker, Almut Höfert, Monika Mommertz und Sophie Ruppel als Festschrift für Claudia Opitz-Belakhal zum 65. Geburtstag herausgegebene Band zu verdeutlichen. Der Basler Frühneuzeithistorikerin sind wegweisende Impulse für die geschlechtergeschichtlich orientierte Forschung zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit zu verdanken. Die insgesamt 30 Beiträge von Kolleginnen und Kollegen sowie Weggefährtinnen und Weggefährten tragen den vielfältigen Forschungsfeldern der Jubilarin über Themengebiete, Epochen, Räume und methodische Zugänge hinweg Rechnung. Fünf Kapitel bündeln diese Zusammenschau und perspektivieren die Beiträge unter der leitenden Fragestellung nach den Beziehungen zwischen Körper, Macht und Geschlecht.
Im ersten, umfangreichsten Kapitel werden unter dem Titel "Gelehrte Kontexte" Beiträge mit ganz unterschiedlichen Themen, Ansätzen und Formaten gefasst. Dazu gehört etwa Monika Mommertz' Blick auf den Haushalt als Ermöglichungsstruktur frühneuzeitlicher Wissenschaften und Wissensproduktion. Der Beitrag zeigt, wie fruchtbar die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht unter Anknüpfung an das "Tracerkonzept" für die Befragung gängiger historiographischer Sichtweisen sein kann. Almut Höfert diskutiert anhand der Figur des Hermaphroditen in Rechtsdiskursen des lateinischen und arabischen Mittelalters die für die Frage nach der Konzeption des körperlichen Geschlechts und sexus interessanten Befunde. Am Beispiel der zeitgenössisch berühmten, im 19. Jahrhundert jedoch marginalisierten Naturgelehrten Johanna Charlotte Ziegler (1725-1782) plädiert Sophie Ruppel für historiographische "Umordnungen" im Sinne einer gezielten Erforschung von Aufklärerinnen. Der Bogen führt schließlich zu der nicht einfachen Aufgabe, Bilanzen nach 30 Jahren Geschlechtergeschichte zu ziehen (Eva Labouvie). Pointiert zeichnet die Autorin Weg und Ort der Geschlechtergeschichte nach und benennt als weitere Aufgaben - in Anlehnung an Jürgen Martschukat - die Relationalität und Intersektionalität beim eigenen Forschen sowie die Nachwuchsförderung.
Der zweite Schwerpunkt des Bandes "Kontaktzonen" widmet sich kulturellen Differenzerfahrungen sowie Fragen des Kulturaustauschs und Wissenstransfers. So geht Gabriela Signori der Beobachtung von Frauen in spätmittelalterlichen Reiseberichten nach. Die herausgehobene Stellung von Frauen bei den schablonenhaft formulierten Differenzerfahrungen erklärt sie mit der weiter zu verfolgenden These einer zunehmenden "ethnologischen" Aufmerksamkeit für kulturelle Differenzen, in der Frauen als Kulturträger erster Ordnung fungierten (147). Antje Flüchters Analyse von Jesuitenbriefen der Indienmission beleuchtet nicht nur Frauentypen und Geschlechterrollen im Kontext einer global verflochtenen Geschlechtergeschichte. Der kursorische Blick auf die jesuitische Männlichkeitskonstruktion zeigt zudem, wie auch die Autorin betont, das Desiderat an konfessionell komparativen Studien zu Männlichkeitskonzepten. Kaspar von Greyerz und Kim Siebenhüner konturieren die bekannte englische Literatin und Orientreisende Lady Mary Montagu (1689-1762) als Mittlerin im Kulturkontakt und Wissenstransfer zwischen Europa und dem Osmanischen Reich. Zu Recht weisen sie gängige Zuschreibungen als "Proto-Feministin" mit Verweis auf den Handlungsspielraum ermöglichenden engen Bezug von "gender and class" zurück. Einen ebenfalls anregenden Orts- und Perspektivenwechsel unternimmt Wolfgang Behringer mit Blick auf nicht-westliche historische Entwicklungen. Er vollzieht am Beispiel des Tabubruchs auf Hawaii die Marginalisierung hawaiianischer Frauen in der westlichen Rezeption nach, die jedoch in der Praxis die entscheidenden Akteurinnen gewesen seien.
Verschiedene körpergeschichtliche Themenkomplexe vereint das dritte Kapitel "Politische Körper". Instruktiv liest sich der Beitrag von Anna Becker, die die Verwendung der Körpermetapher in der politischen Theorie analysiert. Spielte dies in der politischen Ideengeschichte bislang kaum eine Rolle, kann Becker das Potential einer systematischen Untersuchung der Wechselbeziehung von Körperlichkeit und Staatlichkeit für das Verständnis republikanischer Theorien am Beispiel der Gewalt gegen Frauen herausarbeiten. In Abgleich zu normativen Grundierungen bieten Selbstzeugnisse zum Beispiel aus medizinischen Kontexten vielfältige Zugänge zu subjektiven ständischen Körperbildern in der höfischen Gesellschaft. Maren Lorenz gibt anhand der Aufzeichnungen des Braunschweiger Leibarztes Urban Friedrich Benedikt Brückmann (1728-1812) einen Einblick in jeweilige höfische Körperpraktiken. Auf die Dekonstruktion von historischen Körperbildern und -normen zielt schließlich der Beitrag von Christa Hämmerle zum militarisierten Männlichkeitsideal im 'langen' 19. Jahrhundert.
Das vierte Kapitel "Mediale Verhandlungen" umfasst literatur- und kunsthistorische Analysen wie diejenige der semantischen Ausprägungen des Praxems der zum Trunk ladenden Jungfrau (Jan Rüdiger) oder Bernhard Strigels "Ungleiches Liebespaar" (Maike Christadler). Susanna Burghartz vermag das zwischen 1570 und 1580 von Hans Bock geschaffene Gemälde "Venustanz" plausibel in den gesellschaftspolitischen Kontext, nämlich den "Aushandlungsprozess von Grenzen zwischen dem reformiert-theologischen und dem humanistisch-politischen Feld" (329) einzuordnen.
Das abschließende fünfte Kapitel bündelt wiederum thematisch recht heterogene Beiträge unter der Perspektive "Praktiken, Partizipationen, Prozesse". So zeigt Andrea Griesebner anhand von frühneuzeitlichen Eheprozessen im Erzherzogtum Österreich, dass - anders als es die gängige diskursive Verbindung von Eifersucht und häuslicher Gewalt nahelegt - vor allem Männer aller sozialen Schichten physische Gewalt ausübten. Michaela Hohkamp nimmt sich den bekannten Fall der als Hexe beschuldigten, als "Vergifterin" verurteilten und 1782 in Zürich hingerichteten Anna Göldi vor, den sie im Kontext grundlegender Transformationsprozesse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert neu verortet. Einblicke in die politische Partizipation von Frauen durch diplomatische Aktivitäten bietet der Beitrag von Dorothea Nolde zur diplomatischen Berichterstattung im Mercure galant (1672-1710), der vornehmlich ein weibliches Publikum adressierte. Anhand der Gesundheitsbiographie zu Bettine von Arnim geht Martin Dinges Praktiken väterlicher Gesundheitssorge nach. Er stellt dabei zur Diskussion, inwiefern Perspektiven wie diese die Bewertung patriarchalisch geprägter Lebensverhältnisse ändern und zu einer differenzierteren Genderdebatte beitragen können.
Insgesamt zeugt der Band, wie bereits angedeutet, ungeachtet der genretypischen Herausforderung, eine thematisch überzeugende Geschlossenheit zu erzielen, von der großen Bandbreite und dem innovativen Potential aktueller Forschungszugriffe einer erweiterten Geschlechtergeschichte vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte. Die Beiträge bieten viele bekannte, aber auch neue Einsichten und ermöglichen gerade durch die Zusammenführung verschiedener frauen-, männer- und geschlechtergeschichtlicher Ansätze mit globalen Perspektivierungen einen facettenreichen Überblick über aktuelle Forschungsthemen und methodologische Ansätze. Dass es diese weiterhin in tradierte Narrative der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Ideen- und Politikgeschichte, einzufügen gilt, bleibt unbenommen.
Hendrikje Carius