Michaela Schmölz-Häberlein / Mark Häberlein (Hgg.): Halles Netzwerk im Siebenjährigen Krieg. Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen in einer globalen Kommunikationsgemeinschaft (= Hallesche Forschungen; Bd. 59), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 355 S., ISBN 978-3-447-11481-3, EUR 69,00
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Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges kursierte in Halle das Gerücht, die Feinde Preußens wollten die ehrwürdigen Glauchaer Anstalten August Hermann und Gotthilf August Franckes in ein Jesuitenkloster umwandeln (45). Dieser bemerkenswerte Fall von Fake News führt in den Kern der vorliegenden Untersuchung und zugleich zu einem ihrer zentralen Ergebnisse: Dargestellt werden die Erfahrungen Hallescher Pietist*innen im bzw. mit dem Siebenjährigen Krieg und ihre Deutungen des Kriegsgeschehens. Dies geschieht überwiegend anhand der im Archiv der Franckeschen Stiftungen reichlich überlieferten Briefe. Aus der Struktur des Halleschen Kommunikationsnetzwerks ergibt sich ein Schwerpunkt im protestantischen Teil des Reiches, doch auch andere europäische (London) und außereuropäische (Nordamerika, indische Ostküste) Gebiete sind repräsentiert. Inhaltlich auffällig ist, dass sich das Weltbild der Briefautor*innen in der Regel auf einen katholisch-protestantischen Gegensatz reduziert und dass zugleich das providentielle Wirken Gottes sowohl hinsichtlich individueller Handlungsoptionen als auch in Bezug auf den Kriegsverlauf betont wird. Innerhalb des Korrespondenznetzes, in dessen Mitte Gotthilf August Francke - der Sohn des Anstaltsgründers - gleichsam als "Spinne" (300) agierte, blieben diese Ansichten "vollkommen widerspruchsfrei" (303; aus anderen Zusammenhängen weiß man allerdings, dass Widersprüche und Konflikte innerhalb des Halleschen Kommunikationsgefüges gelegentlich bewusst unterdrückt werden konnten).
Unter den Korrespondenzpartner*innen Franckes und seiner Mitarbeiter finden sich in Halle ausgebildete Geistliche, Missionare, daneben etwa die Äbtissin von Gandersheim als adelige Mäzenin der Anstalten und ferner auch unmittelbar am Krieg beteiligte Akteure. Die Briefwechsel dienten der pietistischen Selbstvergewisserung in unsicheren Zeiten, dem Spenden von Trost, vor allem aber auch der Acquise von Geldbeträgen und damit dem Erhalt der Halleschen Unternehmungen bzw. der Unterstützung Kriegsversehrter im Reich - auch mit Hilfe englischer Wohltäter wie George Whitefield. Gleichzeitig verbanden die Informationen die verstreuten Anhänger Halles untereinander (in Indien war man dank Franckes Briefen über die russische Eroberung Küstrins informiert, 112), die ihrerseits wiederum Ereignisse von internationalen Kriegsschauplätzen (Nordamerika, Indien) in das Mediensystem Halles einspeisten. Hier hätte man gelegentlich gern noch etwas mehr darüber erfahren, ob und inwiefern man in Halle z.B. tatsächlich besser über bestimmte Entwicklungen informiert war als andernorts und welche innereuropäische Reichweite die Informationen des Halleschen Netzwerks besaßen - über die genuin Halleschen Publikationsorgane hinaus. Verstreute Hinweise, dass bestimmte Texte (wie über den Kampf um das indische Cuddalore) "bewusst für ein Publikum" in Europa (270) verfasst wurden, sagen für sich genommen wenig über die narrativen Strategien, das Hinzufügen und Weglassen bestimmter Inhalte, die Weiterverarbeitung von Informationen jenseits des Halleschen Medienkosmos und deren mögliche Fernwirkungen aus.
Ähnliches gilt für Nordamerika, wo bereits ab Mitte der 1750er Jahre die Kriegshandlungen für Halles deutsche Korrespondenten in den Auswanderersiedlungen spürbar wurden. Das Deutungsmuster von Briefautoren wie Heinrich Melchior Mühlenberg, wonach der Krieg als Strafgericht Gottes zu sehen sei, mischte sich hier mit der Angst vor indigenen "Barbaren" (207) - Ähnlichkeiten zur europäischen Türkenfurcht früherer Jahre (208) liegen auf der Hand, sie wären aber ebenso eine genauere Betrachtung wert wie die Wissenshorizonte und narrativen Vorprägungen der Verfasser (siehe etwa die Bemerkungen im Kontext einer faszinierenden Kannibalismusepisode, 220f.).
Das Buch basiert auf der häufig erstmaligen Auswertung umfangreicher Quellenbestände und bietet eindrucksvolle, farbenprächtige Schilderungen von Kriegsereignissen und ihre Interpretation durch Zeitgenossen aus dem Halleschen Umfeld. Es füllt damit zweifellos in mehrfacher Hinsicht ein Desiderat. So stellt es einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der bisher wenig beleuchteten Geschichte von Franckes Anstalten im späteren 18. Jahrhundert dar - noch dazu in internationaler Perspektive. Hier verknüpft sich die Geschichte des Halleschen Pietismus mit neueren Forschungen zum Siebenjährigen Krieg und allgemeiner mit dem Thema Kriegserfahrungen in religiösen Gemeinschaften. In den Augen der Halle nahestehenden Zeitgenossen präsentiert sich der Krieg als primär religiöse Angelegenheit; Generationen übergreifende Verbindungen nach Halle und zu den Franckes werden deutlich, und das Kommunikationsgefüge erweist sich auch unter Kriegsbedingungen als erstaunlich stabil über Zeit und Raum.
Hervorzuheben ist, dass zur Zeit des Krieges offensichtlich weniger mit den vermeintlich typischen Alleinstellungsmerkmalen Hallescher Pietisten argumentiert wird, etwa mit der Ausbreitung des Reiches Gottes unter den wahren Gläubigen, mit Endzeitvorstellungen, Bußkampf und individueller Erweckung, wie dies in früheren Jahrzehnten essentiell gewesen wäre. Es dominiert dagegen eine antikatholische Stoßrichtung: Den 'guten' Protestanten (Preußen, England, Halle) stehen die papistischen Habsburger und Franzosen gegenüber. Im Zweifel war es gleichwohl nicht der Preußenkönig Friedrich II., sondern Gott, dem Lob und Ehre galten (301). Ob und inwieweit der Krieg bzw. das Berichten darüber innerhalb des Halleschen Netzwerks bestimmte theologische Haltungen prägte oder veränderte und wie sich pietistische Frömmigkeit durch das Kriegserleben modifizierte, wären interessante weiterführende Fragen. Insgesamt stellt sich jedenfalls das, was vom Halleschen Pietismus nach der Mitte des 18. Jahrhunderts übriggeblieben war, als traditionsbewusst im Sinne einer historischen Orientierung an den Glauchaer Ursprüngen dar, in kommunikativer Hinsicht als durchaus effizient und global, in inhaltlicher Perspektive aber als konservativer und konventioneller als in den Anfängen der Bewegung.
Das Buch bietet auf der Basis umfangreicher und solider Quellenforschung Einblicke in ein bisher stark vernachlässigtes Thema, selbst wenn aus Sicht der Pietismusforschung vielleicht nicht alle Ergebnisse völlig überraschen. Zwar hätte man manche enorm zitatlastigen Abschnitte sicherlich kürzen und analytisch verdichten können, doch lassen sich die zahlreichen hier präsentierten Quellenauszüge zugleich als Steinbruch für künftige Arbeiten nutzen.
Alexander Schunka