Juliane Fürst: Flowers Through Concrete. Explorations in Soviet Hippieland, Oxford: Oxford University Press 2021, XVI + 477 S., ISBN 978-0-19-878832-4, USD 74,00
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Nachdem bereits die sowjetischen Jazz-, Rock-, Punk- und Metalszenen durch einschlägige Studien gewürdigt worden sind, war das Erscheinen einer umfassenden Monografie zur sowjetischen Hippieszene für manche nur eine Frage der Zeit. Juliane Fürst legt mit ihrer in einem Zeitraum von über zehn Jahren entstandenen und äußerst engagiert verfassten Studie ein gleichermaßen wissenschaftlich fundiertes wie kurzweilig geschriebenes Buch vor. Die knapp 450 Seiten umfassende Schilderung greift unter anderem auf mehr als 130 Zeitzeugeninterviews zurück, ohne dabei ins Anekdotenhafte zu verfallen. Besonders hervorzuheben ist der Anspruch der Historikerin, einer geglätteten Meistererzählung entgegenzutreten und auch eigene potenzielle Subjektivismen kritisch zu thematisieren.
Die Monografie ist in zwei Hauptabschnitte unterteilt: Zunächst zeichnet die Potsdamer Historikerin die Entstehung, die Blüte und das Abklingen der Hippieszenen nach, mit besonderem Augenmerk auf hierbei festgestellte Sowjetismen. Dieser rote Faden schafft ein Grundverständnis der sowjetischen Szenen und der Sistema, dem alternativen Bezugsrahmen der sowjetischen Hippies. Fürst betont das stete Wechselspiel zwischen Sistema und offizieller sowjetischer Kultur und wendet sich dabei gegen dichotome Deutungsmuster, die Hippies und Staat als polare Gegenspieler bezeichnen. Vielmehr legt sie überzeugend dar, dass Sozialismus und Hippies einander durchaus beeinflussten und die innere Logik der Hippies auch sowjetisch geprägt war.
Der zweite Abschnitt des Buches widmet sich mit Ideologie, Kaif (grob übersetzbar mit Entrückung), Stofflichkeit, Wahnsinn und Gerla (einer Russifizierung des englischen Wortes girl) insgesamt fünf Schwerpunkten innerhalb der Sistema. Das letzte Subkapitel befasst sich mit einer dezidiert weiblichen Sichtweise auf die Szenen, die Fürst als feministisch motivierten Gegenpart zu der in ihren Augen vorwiegend männlichen Meistererzählung versteht.
Seit den späten 1960er Jahren waren in den sowjetischen Metropolen Einflüsse westlicher Hippieszenen wahrnehmbar, die oftmals durch im Ausland tätige Diplomaten oder andere privilegierte Reisende die UdSSR erreichten. Aber auch die sowjetische Presse nahm sich der Erscheinungen in den USA an und stellte diese umgehend in einen politischen Kontext. Äußere Erkennungszeichen wie Jeans, lange Haare bei Männern oder Slogans wie "Liebe und Frieden" diffundierten allmählich in den sowjetischen Alltag.
Zunächst abwartend bis duldend, reagierte der Staat im Juni 1971 schließlich repressiv auf die wachsende Sichtbarkeit der Hippies in Moskau, als die Polizei die wichtigsten Anhänger bei einer zum Schein genehmigten Hippiedemonstration gegen den Vietnamkrieg festnahm. Juliane Fürst erkennt in diesem Vorfall die Anfänge einer erzwungenen Positionierung junger Hippies gegenüber dem Staat und den Beginn einer Suche nach Freiräumen im eigenen Sistema. Letztlich schufen die Hippies eigene Wertkoordinaten, entdeckten Nischen und etablierten ein belastbares, interpersonelles Netzwerk.
Diese Ordnung stand Fürst zufolge nicht im Widerstreit mit dem offiziellen System, sondern ergänzte es und formte sich um dieses herum. Hippies besetzen fortan wenig reglementierte Orte der urbanen Öffentlichkeit, rekonfigurierten Tätigkeiten oder Gegenstände und schufen somit identitätsstiftende und abgrenzende Rituale und Kulturtechniken. Viele dieser Aspekte erforderten eine Anpassung der ursprünglich aus dem Westen stammenden Verhaltensweisen, lebten die Hippies doch in der Sowjetunion und damit in einem System des allgegenwärtigen materiellen Mangels und der Improvisation. Zwischen dem imaginierten Leben der amerikanischen Hippies und dem alltäglich erlebten sowjetischen System entstand in der Folge eine eigenständige Hippieidentität.
Der zweite Abschnitt des Buches widmet sich daher der sowjetisierten Hippieideologie, die in weiten Teilen inhaltlich unbestimmt blieb. Aufgrund der einfach anmutenden Weltsicht von "Liebe und Frieden" existierten Anknüpfungspunkte zu frühen sozialistischen Idealen. Anders als der sozialistische Staat verfolgten Hippies jedoch eine weniger politische, sondern vielmehr eine vorrangig individuelle Strategie, um diese Ziele zu verwirklich. Der Kaif bezeichnet dabei einen musikalisch, spirituell oder synthetisch (durch Drogen, Medikamente und Alkohol) hervorgerufenen Rauschzustand. Die Untersuchung bildet hier die große Bandbreite der Szenetechniken ab und lässt auch unterschiedliche Einschätzungen nebeneinanderstehen.
Typische Probleme des Szenealltags konnten durch Improvisation, eine typisch sowjetische Kulturtechnik, gemeistert werden, insbesondere bei der Beschaffung von Rauschmitteln und Bekleidung. So profitierten Hippies bei der Suche nach stoffgebundenen, substanzinduzierten Rauscherfahrungen von den im sowjetischen Gesundheitssystem leicht zu erhaltenden starken Betäubungsmitteln. Der Psychiatrie kommt für die Hippieszenen eine besondere Bedeutung zu, beispielsweise bei der Simulation von Wahnsinn, um den Wehrdienst zu umgehen. Insbesondere dieser Teilaspekt illustriert den letztlich nicht vermeidbaren und von Juliane Fürst auch herausgestellten Kampf um die Deutungshoheit zwischen staatlicher Ordnung und Hippieinteressen: Wollten letztere die Uneindeutigkeiten der Medizin für eigene Zwecke nutzen, um sich über (psychiatrische) Krankenhäuser mit Rauschmitteln zu versorgen, war der sowjetischen Politik an Eindeutigkeit und Verfügungsmacht über die jungen Menschen gelegen, wie sich während der Moskauer Olympiade 1980 durch das systematische Wegsperren vermeintlicher Störenfriede, wie der Hippies, in sowjetische Krankenhäuser zeigen sollte.
Ungeachtet des Anspruchs vieler Hippies, Nischen im Staatssozialismus zu besetzen, das System für eine eigene, alternative Lebensführung nutzen zu können, forderte dieses freie Leben mit wenig geregelten Berührungspunkten mit der spätsowjetischen Bürgerlichkeit seinen Tribut, wie die angeführten biografischen Beispiele offenbaren. Während die Mehrzahl der Hippies früher oder später nicht zuletzt altersbedingt in die sowjetische Mehrheitsgesellschaft zurückkehrte und andere in die Emigration gingen, mündete der oftmals von Drogen und Alkohol begleitete Weg der bekanntesten Gesichter der Szene in der Vergessenheit oder einem frühen Tod. Fürst zeigt zudem, dass das Ende der Sowjetunion 1991 auch das Ende der bis dahin etablierten Jugendszenen bedeutete, die unter den Transformationsbedingungen und Erfahrungen der russischen 1990er Jahre nicht mehr in den bis dahin auf die sowjetischen Realitäten eingespielten Nischen überdauern konnten.
Anhand mehrerer Biografien von Frauen wagt Juliane Fürst in einem abschließenden Unterkapitel einen exklusiv weiblichen Blick auf den Hippiealltag. Das Bemühen, eine geschlechtszentrierte Perspektive aufzuzeigen, erlaubt es, häufig marginalisierten Stimmen des öffentlichen Diskurses zu sowjetischen Hippieszenen (beispielsweise im russischen Internet) eine Plattform zu geben. Andererseits führt diese Fokussierung bisweilen auch dazu, dass die in den vorherigen Kapiteln konsequent ausgehaltenen Ambiguitäten geglättet werden, um eine Erzählung zu erreichen. Fürst kommt zu der Feststellung, dass exponierte Frauen die Szene über spirituelle Ideen und traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit prägten, während Männer im kollektiven Gedächtnis als Anführer verankert wurden. Im Sinne einer Gesamtdarstellung ist die isolierte Schilderung dieser Beobachtungen bedauerlich, da eine inklusivere Darstellung die vorhergegangenen Kapitel um wichtige Aspekte bereichert hätte. Aber auch ohne diese Verbindung ist die differenzierte Darstellung des spätsowjetischen Alltags mit Augenmerk auf Kooperation statt Konfrontation zwischen Hippies und Staat ein Gewinn für die Forschungen zum späten Sozialismus der UdSSR und zudem eine spannende Lektüre.
Christian Werkmeister