Philipp Mittnik / Georg Lauss / Sabine Hofmann-Reiter: Generation des Vergessens? Deklaratives Wissen von Schüler*innen über Nationalsozialismus, Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 142 S., 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1269-1, EUR 22,90
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Seit Beginn des 21. Jahrhunderts - wohl nicht zufällig mit der Wende von der Zeitzeugenschaft zu einem sekundär vermittelten Gedächtnis - bilden Erhebungen zu den Themenfeldern 'Nationalsozialismus' und 'Holocaust' einen Schwerpunkt bei empirischen geschichtsdidaktischen Studien. Nicht nur die Geschichtsdidaktik, sondern auch die Bildungspolitik möchte wissen, wie die schulische Vermittlung jener extremen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Identität, Einstellungen und Politikverständnis Jugendlicher beeinflusst. Nun ist freilich der empirische Nachweis der Wirkung von Geschichtsunterricht auf die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein ein schwieriges Unterfangen. Durch die allenthalben in den Lehrplänen verankerte Kompetenzorientierung stellt sich die Geschichtsdidaktik der Herausforderung, das Geschichtsbewusstsein mittels Kompetenzen greifbar zu machen.
Die vorliegende Untersuchung beruht auf der Entscheidung, die Schwierigkeiten einer empirischen Annäherung an Geschichtsbewusstsein und Kompetenzerwerb zu umgehen, indem sie sich weitgehend auf die Abfrage historischer Fakten und Daten beschränkt. Das bringt einerseits den Vorteil mit sich, dass manche griffige Ergebnisse zum Wissensstand von 15-Jährigen zutage gefördert werden. Andererseits entsteht jedoch ein irritierendes Missverhältnis zwischen theoretischen Bekenntnissen zu Kompetenzorientierung (30 / 31) oder zum Aufbau von Geschichtsbewusstsein (124) und der Rückkehr zur Wissensorientierung im forschungspraktischen Kernteil der Studie.
Die von Lehrenden der Pädagogischen Hochschule Wien erstellte Untersuchung erhebt, "welches Wissen über den Nationalsozialismus, den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg und die Aufarbeitung dieser Themen nach 1945 bei Wiener Schüler*innen abrufbar ist". (35) Behandelt wurden diese Themen lehrplangemäß bereits in der achten Schulstufe in der Neuen Mittelschule (NMS) oder in der Allgemeinbildenden höheren Schule (AHS). Befragt wurden dann die insgesamt 1.181 Schülerinnen und Schüler aus 56 Schulklassen in 16 Wiener Gemeindebezirken in der neunten Schulstufe 2017 / 2018 an höheren oder mittleren Schultypen. Der anonymisierte Fragebogen enthält sieben Fragen zu Umfang und Qualität der Beschäftigung mit den Themen 'Nationalsozialismus' und 'Holocaust' im Unterricht, 14 meist offene Fragen zum historischen Wissen und sieben meist offene Fragen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich (41 / 42). Gut die Hälfte der Fragen wurde in teils veränderter Form aus einer Salzburger [1] und einer Londoner Studie [2] übernommen.
Die konkrete Auswahl der Wissensfragen begründen die Autorin und die Autoren hauptsächlich mit dem "Gegenwartsbezug" (31), den sie allerdings eng fassen: Jugendliche sollen mithilfe von historischem Wissen über die nationalsozialistischen Verbrechen rechtsextremen und rassistischen Aussagen entgegentreten können. Dass Gegenwartsbezug beim Thema 'Nationalsozialismus' auch bedeuten müsste, Motive der Zustimmung zu exklusiven Vorstellungen von 'Volksgemeinschaft' sowie Anfänge der Unterhöhlung von Demokratie in Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren, bleibt ausgeblendet - gerade hier hätten übrigens kompetenzorientierte Fragestellungen ihre produktive Funktion zu erfüllen.
Als Beispiel für den Gegenwartsbezug von Faktenwissen wird in der Studie die Gesamtzahl der Opfer des Holocaust herangezogen. Schülerinnen und Schüler in der AHS können sie nur zu knapp 30 %, in der Polytechnischen Schule (PTS) nur zu knapp 10 % in richtiger Dimension benennen, während sie die Zahl oft unterschätzen und manchmal überschätzen (70), weshalb sie - so die Interpretation der Ergebnisse - geschichtsrevisionistischen Bestrebungen nichts entgegenhalten könnten. Obwohl eine verbreitete Unkenntnis der Opferzahl tatsächlich beunruhigend ist, zeigen sich an diesem Beispiel exemplarisch problematische Aspekte der Studie. Erstens die latent vorhandene Neigung zu einer fragwürdigen moralisierenden Didaktik, die an die Oberfläche tritt, wenn die Nennung der hohen Opferzahl "am Arbeitsplatz, aber auch in der Peergroup zu Ablehnung und Entsetzen führen" (32) soll; zweitens eine anfechtbare Isolierung historischer "Schlüssel"-Fakten, wenn in erster Linie die Opferzahl, die auch bei anderen Massenverbrechen sehr hoch ist, die Singularität des Holocaust ausmachen soll (70); und drittens sprachliche Fallstricke im Fragebogen, wenn zunächst nach dem prozentuellen jüdischen Bevölkerungsanteil im Österreich der 1930er-Jahre gefragt wird und unmittelbar darauf die Frage "Wie viele Jüdinnen und Juden wurden in etwa in dieser Zeit getötet?" folgt, so dass sowohl der geografische Raum (Österreich oder Europa?) als auch die Angabe "in dieser Zeit" doppeldeutig werden (42).
Weitere augenscheinliche geschichtsdidaktische, sprachliche oder formale Pannen: Befremdlich ist, dass der kritisierten, auf Adolf Hitler zugeschnittenen Personalisierung der NS-Geschichte mit der Frage nach weiteren Funktionsträgern des NS-Regimes, also mit neuerlicher Personalisierung, begegnet wird; unangemessen, weil am begrifflichen Lernen vorbeizielend, erscheint es, die Schülerinnen und Schüler bei Fragestellungen zur Institutionengeschichte über die Abkürzungen SA, SS und Gestapo stolpern zu lassen (42); und wie ein ungewolltes Echo des österreichischen Opfermythos klingt die missglückte Formulierung, in welchem Ausmaß die Österreicherinnen und Österreicher "den Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich" (42) begrüßt hätten (als ob der Nationalsozialismus von außen ins Land gekommen wäre). Einige Male tauchen in der Interpretation oder in der Zusammenfassung der Ergebnisse Fragestellungen auf, die im abgedruckten Fragebogen fehlen.
Trotz dieser Schwächen liefert die empirische Studie etliche bemerkenswerte Ergebnisse zu Wissensdefiziten in Bezug auf historische Ereignisse, beispielsweise zum Novemberpogrom (60-62), bezüglich des meistens auf Hitlers Tod zurückgeführten Endes des NS-Regimes (85) oder der Waldheim-Debatte (86). Auch beim konzeptuellen Lernen werden Defizite deutlich, vor allem bei der Klärung des Begriffs 'Antisemitismus': Am besten schneiden noch die Schülerinnen und Schüler der AHS ab, die den Begriff zu knapp 30 % zutreffend umschreiben können, am schlechtesten jene der PTS mit etwa 4 %; in den AHS konnten über 40 % keine Angabe zu 'Antisemitismus' machen, in den PTS über 80 % (57). In dieser Differenzierung der Ergebnisse nach Schultypen liegt eine der Stärken der Studie. Sie untermauert ein weiteres Mal die markant unterschiedlichen Bildungschancen in den AHS, aus deren Unterstufe die meisten befragten AHS-Schülerinnen und -Schüler kamen, und in den NMS, die fast alle Befragten der PTS zuvor besucht hatten.
Auch um diese schultypenspezifische, sich im Geschichtsunterricht niederschlagende Bildungskluft zu verringern, werden am Ende der Studie mehr Unterrichtsstunden über die Themen 'Nationalsozialismus' und 'Holocaust' sowie eine intensivierte Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte gefordert. Direkt an die Lehrenden richten sich unter anderem die sinnvollen Empfehlungen, das konzeptuelle Lernen zu stärken und am Beispiel des Zweiten Weltkriegs eine international-multiperspektivische Geschichtsbetrachtung zu fördern. Eine Empfehlung möge noch ergänzt sein: jene notorischen "Alltagstheorien" (11) wie die "Hitler-Zentrierung" (84), die zu verzerrten Geschichtsbildern führen, im Unterricht gezielt anzusprechen und zu bearbeiten.
Anmerkungen:
[1] Christoph Kühberger / Herbert Neureiter: Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Schwalbach / Ts. 2017.
[2] Stuart Foster u. a.: What do students know and understand about the Holocaust? Evidence from English secondary schools, London 2016.
Christian Angerer