Heidi Hein-Kircher: Lembergs "polnischen Charakter" sichern. Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie zwischen 1861/62 und 1914 (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung; 21), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 404 S., ISBN 978-3-515-12696-0, EUR 68,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Geschichte Lembergs wurde unterschiedlich verstanden und erzählt. Während einige Autoren den deutschen, polnischen, jüdischen oder ukrainischen Charakter der Stadt an der Poltwa betonten, widmeten andere ihr Interesse der Multikulturalität oder nationalen Konflikten in diesem zum Mythos verklärten Ort. Die Kommunalverwaltung spielte bei diesen Darstellungen mit Ausnahme von Łukasz Srokas Monografie über den Lemberger Stadtrat keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Heidi Hein-Kirchers lesenswertes Buch behebt dieses Desiderat. Die Autorin beweist, dass Kommunalpolitik gut dafür geeignet ist, sowohl die Komplexität einer multiethnischen Stadt als auch die Nationalitätenkonflikte zu analysieren.
Die Monografie, die als Habilitationsschrift an der Philipps-Universität Marburg vorgelegt wurde, ist in fünf Kapitel unterteilt, denen eine interessante Einleitung vorausgeht und deren Ergebnisse in einem instruktiven Fazit zusammengefasst werden. Die wichtigste These der Arbeit, die H.-K. sehr gründlich überprüft, lautet, dass die Kommunalpolitik in Lemberg nach der Einführung der Gemeindeordnung 1861/62 und dem Ausgleich von 1867 von den polnischen Lokalpolitikern in Lemberg weitestgehend übernommen, kontrolliert und zur Polonisierung und Modernisierung der Stadt angewendet wurde. Da Lemberg in einem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet lag und zu 30 Prozent von Juden bewohnt war, konnte die Polonisierung der Stadt nur auf Kosten der jüdischen und ukrainischen Bevölkerung erfolgen. Während Juden sich ab den 1880er Jahren an die polnische Kultur assimilierten, leisteten Ukrainer vehementen Widerstand und setzten dem polnischen Nationalismus ihren eigenen entgegen.
In der Einleitung präsentiert die Autorin den Forschungsstand sowie ihre methodologisch-konzeptionellen Zugänge und stellt den Aufbau der Studie vor. Sie hat sich dafür entschieden, die Kommunalpolitik mit den Begriffen "Modernisierung" und "Sicherheit" zu analysieren und entwickelt einen kulturorientierten Zugang zu kommunalpolitischen Diskursen. Dieser eignet sich gut, um herauszuarbeiten, welche Rolle Modernisierungsprozesse und Sicherungsbestrebungen in Lemberg spielten und wie sie vor allem von polnischen Politikern eingesetzt wurden, um die Stadt zu polonisieren.
Im ersten Kapitel stellt Hein-Kircher die Geschichte Lembergs vor. Dabei wird deutlich, dass die von dem ruthenischen Fürst Leo gegründete Stadt einerseits fast von Beginn an einen multiethnischen Charakter hatte. Andererseits war sie jahrhundertelang starken polnischen Einflüssen ausgesetzt, die dazu führten, dass sich ruthenische Adlige polonisierten und die polnische Kultur und Sprache mit "Vorherrschaft" assoziiert wurden, obwohl in Galizien neben ruthenischen auch viele polnische Bauern lebten. Nach der Aufteilung Polen-Litauens 1772 und der Gründung der Provinz Galizien durch habsburgische Bürokraten wurde das Land auch von der deutschen Kultur geprägt. So war die Verwaltungssprache bis zum Ausgleich von 1867 Deutsch. Die dem Ausgleich vorausgegangene Einführung der habsburgischen Gemeindegesetzgebung 1861/62 markiert den Beginn der Studie.
Im zweiten Kapitel zeigt die Autorin, wie die neue Gemeindegesetzgebung polnischen Kommunalpolitikern den Weg dahin ebnete, die Stadtverwaltung zu polonisieren. Obwohl die Polonisierung aufgrund verschiedener imperialer Sicherheitsmechanismen nur langsam voranging, wurde sie sehr gründlich durchgeführt. Sie hatte zur Folge, dass die kommunale Gesetzgebung ins Polnisch übersetzt wurde, die Sitzungen des Stadtrats "ausschließlich in polnischer Sprache" stattfanden, "das Eigentum der Stadt Lemberg" als "ausschließlich christlich" definiert wurde, Juden nicht mehr als 15 Sitze (20 Prozent aller Sitze) im Stadtrat zustanden und der Bürgermeister ein Christ sein musste. Diese Maßnahmen zielten vor allem darauf ab, die Beteiligung der Juden an der Kommunalpolitik zu regulieren. Die Ukrainer bzw. Ruthenen stellten für polnische Kommunalpolitiker wegen ihrer geringen Zahl in der Stadt und des Dreiklassenwahlrechts keine ernsthafte Gefahr dar. Die Polonisierung der Kommunalverwaltung wurde seitens der Polen als fortschrittlich und notwendig verstanden und dargestellt. Der Gedanke, dass sie andere ethnische Gruppen diskriminierte, wurde nicht zugelassen.
Damit diese spezifische Form der Kommunalverwaltung aufrechterhalten werden konnte, konzeptualisierten polnische Stadtpräsidenten wie Florian Ziemiałkowski, Michał Gnoiński und Godzimir Małachowski mit Hilfe weiterer polnischer Kommunalpolitiker Bedrohungsszenarien. Diese wollten glaubhaft machen, dass die polnische Kultur sowohl von Ukrainern als Juden bedroht sei und es spezielle Maßnahmen erfordere, sie zu beschützen oder sogar zu retten. Da polnische Nationalisten in Lemberg ihre nationale Kultur mit der europäischen gleichstellten, erlangte die Rettung der polnischen Kultur in Lemberg absolute Priorität und spornte polnische Kommunalpolitiker auf Stadt-, Landes- und Reichsebene zu zahlreichen Kämpfe gegen Juden und Ukrainer an. Wenn sie Wahlen auf dem legalen Weg nicht gewinnen konnten, machten sie von Manipulationen Gebrauch, die sogar in der gesamten Monarchie und Kongresspolen bekannt waren. Die Etablierung der polnischen Vorherrschaft führte zu Konflikten mit der ukrainischen Bevölkerung und hatte Attentate, wie 1908 auf den Stadthalter Andrzej Potocki, zur Folge.
Im dritten Kapitel zeigt Hein-Kircher, dass außer Bedrohungsszenarien auch die Verschönerung und Modernisierung der Stadt dazu dienten, Lemberg zu polonisieren. Polnisch wurde dabei immer als schön, fortschrittlich und europäisch interpretiert bzw. die Verschönerung und Modernisierung der Stadt als Errungenschaften der polnischen Kultur verstanden. Zugleich wurde die Sicherung der europäischen Zivilisation in Lemberg und Galizien zu einer zentralen Aufgabe erkoren, weil die Stadt aus Sicht der polnischen Kommunalpolitik von Ukrainern umzingelt war. Dabei kam auch der Gedanke zustande, dass Lemberg die polnische Ersatzhauptstadt sei. Da Warschau in Kongresspolen lag, wo die Kommunalpolitik direkt dem Innenministerium in St. Petersburg unterstand und geschichtspolitische Arbeit kaum möglich war, erschien diese Idee in allen drei Teilungsgebieten als plausibel und wertete den Status Lembergs auf.
Die Bildungsinfrastrukturen in der Stadt werden im vierten Kapitel untersucht. Die Verfasserin stellt fest, dass auch auf diesem Gebiet der Stadtrat die Polonisierung vorantrieb. Obwohl Hein-Kircher das Konzept der "nationalen Indifferenz" von Tara Zahra nicht aufgreift, zeigt sie ähnlich wie die amerikanische Osteuropahistorikerin, dass Schulpolitik von zentraler Bedeutung war, um nationale Kultur an multiethnischen Orten zu stiften und Konflikte zu verbreitern. Die Errichtung von Universitäten und Technischen Hochschulen, die fast ausschließlich polnisch waren, verstärkten diesen Prozess. Zu der mission civilisatrice trug auch die Schaffung polnischer Kulturinstitutionen wie Theater, Bibliotheken, Museen und Gemäldegalerien, vor allem aber des Ossolineums, bei.
Im fünften Kapitel geht die Marburger Historikerin auf die städtische Geschichtspolitik und Selbstdarstellung ein. Diese eigneten sich besonders gut, um den Charakter einer Ersatzhauptstadt durch die Errichtung polnischer Nationaldenkmäler oder die Benennung von Straßen und Plätzen nach polnischen Königen und Künstlern zu demonstrieren. Die Geschichtspolitik polnischer Kommunalpolitiker war auch explizit gegen Ukrainer gerichtet, nach deren Persönlichkeiten nur wenig repräsentative Straßen am Stadtrand benannt wurden. Durch die Errichtung von Denkmälern für Könige wie Jan Sobieski, der Wien vor dem Osmanischen Reich verteidigt hatte, versuchten Lemberger Kommunalpolitiker auch eine Brücke zwischen der polnisch-nationalen und habsburgisch-imperialen Erinnerung zu schlagen. Juden wurden durch polnische Kommunalpolitiker in der Regel nur dann öffentlich erinnert, wenn sie, wie Berek Joselewicz, für die polnische Unabhängigkeit gegen die Imperien gekämpft hatten.
Zusammenfassend sollte betont werden, dass die Verfasserin eine instruktive Studie vorgelegt hat, die unbedingt ins Hebräische, Polnische und Ukrainische übersetzt werden sollte. Sie präsentiert nicht nur neue Erkenntnisse über die Geschichte der Stadt und Region, sondern zeigt auch, dass die Kommunalverwaltung eine vernachlässigte und wichtige Ebene der europäischen Geschichte ist.
Anmerkung:
[1] Łukasz Sroka: Rada Miejska we Lwowie w okresie autonomii galicyjskiej 1870-1914. Studium o elicie władzy [Der Stadtrat in Lemberg im Zeitraum der galizischen Autonomie 1870-1914. Studie über eine Machtelite], Kraków 2012.
Grzegorz Rossoliński-Liebe