Neil Stewart: Bohemiens im böhmischen Blätterwald. Die Zeitschrift Moderní revue und die Prager Moderne (= Beiträge zur slavischen Philologie; Bd. 20), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, 521 S., ISBN 978-3-8253-6968-2, EUR 68,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Christine Fischer / Ulrich Steltner (Hgg.): Polnische Dramen in Deutschland. Übersetzungen und Aufführungen als deutsch-deutsche Rezeptionsgeschichte 1945-1995, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011
Matthias E. Cichon / Anne Kluger / Martin Koschny / Heidi Hein-Kircher (Hgg.): Den Slawen auf der Spur. Festschrift für Eduard Mühle zum 65. Geburtstag, Marburg: Herder-Institut 2022
Steffen Höhne / Anna-Dorothea Ludewig / Julius H. Schoeps (Hgg.): Max Brod (1884-1968). Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Die Zeitschrift Moderní revue (MR), das wichtigste Organ der tschechischen Dekadenz, einer der Hauptrichtungen innerhalb des literarisch-künstlerischen Ästhetizismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, nahm unter den Periodika, die das kulturelle Leben Böhmens jener Zeit prägten, eine besondere Stellung ein. In der Habilitationsschrift des Bonner Slawisten Neil Stewart werden Geschichte und Bedeutung der Zeitschrift erstmals in monografischer Form aufgearbeitet. Laut Einleitung, die über Forschungsstand, Methodik und Aufbau der Arbeit informiert, möchte die Untersuchung "die komplexen Entwicklungen der Prager Moderne [...] veranschaulichen und dabei Gelegenheit nehmen, ästhetische und historische Beschreibungskategorien wie Décadence und Modernität am konkreten Material zu erproben" (19). Die folgenden Kapitel greifen unterschiedliche Aspekte der Problematik auf.
Kapitel 2, lapidar "1894-1925" betitelt, nimmt Entstehung und Werdegang der Zeitschrift um Arnošt Procházka und Jiří Karásek ze Lvovic in den Blick. Die beiden Gründer und Herausgeber gerieten mit ihrer elitären, auf Kunstautonomie und Individualismus beruhenden Literaturauffassung sowie ihrer respektlosen Haltung gegenüber der Tradition schnell in die Kritik. Heftige Auseinandersetzungen mit F. X. Šalda und anderen Vertretern der Česká moderna folgten, was Stewart nicht zuletzt darauf zurückführt, dass die Repräsentanten der MR bei allen modernistischen Intentionen teils sehr konservative Ansichten vertraten. Den Anspruch auf Internationalität habe man durch den Abdruck von Werken bekannter wie unbekannter ausländischer Autor:innen erfüllt - mit besonderem Schwerpunkt auf der Literatur skandinavischer Länder. Das Gros der tschechischen Beiträge haben Procházka und Karásek mit ihren kritischen und belletristischen Texten selbst bestritten, aber auch bekannte Namen wie Karel Hlaváček, die Brüder Čapek, Karel Toman, Fráňa Šrámek und viele andere finden sich unter den Autoren.
Um die wechselvolle Geschichte der Zeitschrift anhand eines plausiblen Periodisierungskonzepts beschreiben zu können, schlägt der Verfasser ein Vier-Phasen-Modell vor, dessen Herleitung er aber unbegründet lässt. Die erste und bedeutendste Phase seien die Jahre 1894-1900 gewesen, als die MR als "Sprachrohr radikal nonkonformistischer Intellektueller" (114) fungiert habe. Dabei hebt der Verfasser u. a. die dichterischen und grafischen Beiträge Hlaváčeks sowie den starken Fokus auf Oscar Wilde hervor. In der Phase 1900-1914 sei die MR bereits "eine in der böhmischen Kulturszene festetablierte Institution" (136) gewesen. Für die in dieser Zeit sich vollziehende "konservative Wende" (137) mit der Abkehr von der Dekadenz und der Hinwendung unter anderem zu Spätsymbolismus und Impressionismus habe vor allem der Kritiker und Essayist Miloš Marten gestanden, der auch für eine katholisch-spirituelle Erneuerung plädierte. Zum neuen Feindbild wurden die aufkommenden Avantgarde-Bewegungen mit ihrem Ziel einer engen Verschmelzung von Kunst und Leben. In den Kriegsjahren 1914-1918 herrschten weiterhin artistische und spirituelle Themen vor, während man sich lange Zeit am politischen Diskurs kaum beteiligte. Erst zum Ende dieser Phase seien nationalistische, ja rassistische Töne aufgetaucht, verbunden mit einer starken Abgrenzung von der deutschen Kultur. Nach anfänglicher Mäßigung sei die Phase 1918-1925 durch einen strammen Rechtskurs mit Ausfällen gegen die Avantgarde wie auch den Masaryk-Kreis gekennzeichnet gewesen. Procházkas Einfluss habe sich immer mehr durchgesetzt, während sich Karásek zurückzog. Der Tod Procházkas bedeutete zugleich auch das Ende der Zeitschrift.
Auf diesen Überblick über Geschichte, Themen und Akteure der MR folgt in Kapitel 3 "Dekadent modern" die literatur- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung. Zunächst resümiert Stewart die Debatten um den Dekadenz-Begriff, um schließlich mit Hilfe der Chronotopos-Theorie an einigen Beispielen die Synchronie von Statik und Dynamik als wesentliches Kriterium dekadenter Texte zu bestimmen. Die tschechische Dekadenz als "überaus spannungsreiche" (252), wenig homogene Erscheinung wird auch in ihrem komplexen Verhältnis zur Česká moderna dargestellt. Eine theoretische Selbstreflexion der Dekadenz habe erst allmählich eingesetzt, wobei insbesondere die Überschneidungen mit Symbolismus und Impressionismus sowie die antirealistischen und individualistischen Züge betont wurden. Der Verfasser sieht in der starken Position ästhetizistisch-individualistischer Kunst und Literatur in Böhmen um die Jahrhundertwende nicht zuletzt eine Reaktion auf die lange Dominanz des tschechischen Nationalismus und die unbefriedigende politische und wirtschaftliche Situation. Nach 1900 habe ein kultureller Wandel stattgefunden, in dessen Folge es auch zu einem Bedeutungsverlust der Dekadenz kam, mit der selbst Procházka und Karásek ihre MR nicht mehr identifiziert sehen wollten. Die hohe Artifizialität der Texte und ihre Ausrichtung auf das Einzelwort als Merkmale der Dekadenz demonstriert Stewart schließlich noch an Hlaváčeks Prosagedicht Subtilnost smutku (Die Subtilität der Trauer), das er mit Kafkas thematisch verwandter Erzählung Die Verwandlung vergleicht.
Kapitel 4 "Medial modern" behandelt das Medienkonzept der MR. Tonangebend war - typisch für die Dekadenz - die Literatur. Die Musikkritik habe stets nur eine marginale Stellung innegehabt, wohingegen Artikel zur Bildenden Kunst immerhin eine prominente Nebenrolle gespielt hätten. Bevorzugt wurden Beiträge zu einer individualistischen, psychologisch fundierten Kunst. Die Avantgardekunst, namentlich abstrakte Werke, lehnte man in Bausch und Bogen ab. Die mediale "Praxis" der MR wird anhand der Bereiche Illustration, Layout, Buchschmuck und Aufbau der Hefte aufgezeigt.
In Kap. 5 "Coda: Im Feld" geht Stewart der Funktion der MR im breiteren Kontext des kulturellen Lebens in Böhmen um die Jahrhundertwende nach. Als methodische Grundlage wählt er die Theorie Pierre Bourdieus zum "literarischen Feld" und versucht, auf dieser Grundlage Erklärungen unter anderem für die hohe Konfliktneigung der MR-Akteure, ihre aristokratischen Allüren oder den nach dem frühen Tod des Dichters einsetzenden Hlaváček-Kult zu finden. Schließlich wird noch die für viele Texte der MR so typische aggressive Rhetorik unter Rückgriff auf das Polemik-Konzept Michel Foucaults an einigen Beispielen untersucht.
Das vorliegende Buch stellt zweifellos einen Meilenstein in der Erforschung der tschechischen Literatur und Kultur der Moderne, insbesondere der Dekadenz, dar. Dabei ist vor allem anzuerkennen, dass sich der Verfasser nicht auf die kurze "dekadente" Phase beschränkt, sondern die MR im gesamten Verlauf ihrer Existenz untersucht. Dies trägt auch zur Klärung der interessanten Frage bei, wie sich die modernistischen Strömungen unter den veränderten kulturellen Bedingungen des frühen 20. Jahrhundert weiterentwickelt haben. Stewarts Monografie ist in Aufbau und Argumentation klar und übersichtlich. Die einzelnen Kapitel wirken mitunter etwas unverbunden und isoliert, was man z. B. durch Zwischenresümees hätte vermeiden können. Nicht unerhebliche Lücken sehe ich im Bereich der verwendeten Literatur, da zum Teil relevante Schriften übersehen wurden. Exemplarisch seien die Arbeiten des Brünner Literaturwissenschaftlers Jiří Kudrnáč, eines der besten Kenner der tschechischen Dekadenz, oder meine eigenen Beiträge zu Karel Hlaváček genannt. Diese Defizite mögen der Komplexität und dem Facettenreichtum der Thematik geschuldet sein. Es verdient dennoch höchste Anerkennung, dass sich der Verfasser kenntnisreich und mit sicherem Gespür für die methodischen Zugänge an diese Aufgabe herangewagt hat. Mit seiner Monografie hat Stewart die Erforschung der tschechischen Moderne um einen gewichtigen Beitrag bereichert.
Reinhard Ibler