Monica Rüthers: Unter dem Roten Stern geboren. Sowjetische Kinder im Bild, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 278 S., ISBN 978-3-412-51453-2 , EUR 45,00
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Seit geraumer Zeit hat sich die Forschung in wachsendem Ausmaß den Erfahrungswelten von Kindern und Jugendlichen in der Sowjetunion zugewandt. Kinder werden als Opfer von Krieg und Repression in den Fokus genommen oder als Objekte - zum Teil auch Subjekte - sowjetischer Gesellschaftspolitik und Adressaten sozialer Kontrollversuche verstanden. Im nachrevolutionären Russland symbolisierten Kinder die erste vom "alten Leben" unbelastete Generation, die damit gleichsam im Sinne des Sozialismus geformt und erzogen werden konnte, aber auch diesen überhaupt erst aufzubauen verhalf. Sie waren gleichermaßen Hoffnungsträger und Heilsbringer, in denen sich als erstes der sozialistische neue Mensch materialisieren sollte. Im Laufe der sieben Jahrzehnte sowjetischer Geschichte wandelte sich die Wahrnehmung von Kind und Kindheit, der hohe Anspruch des Regimes an sie blieb. Sie bildeten Projektionsfläche und Objekt staatlicher Gesellschaftsprojekte.
Es bietet sich also an, das Kind in das Zentrum einer visuellen Geschichte der Sowjetunion zu stellen. Das Sujet erlaubt den Zugriff auf eine Bandbreite von Aspekten des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion, offenbart Vorstellungen und Hoffnungen, spiegelt Neuorientierungen, politischen Wandel und gesellschaftliche Umbrüche wider. In der Umsetzung gestaltet sich das Vorhaben der Osteuropahistorikerin Monica Rüthers in mehrfacher Hinsicht ambitioniert. Zeitlich reicht die Untersuchung in Ansätzen von 1917 bis in die heutige Zeit, wobei der Schwerpunkt auf dem Zeitraum von den 1930er Jahren bis zum Ende der Sowjetunion liegt. Offizielle Bildproduktionszusammenhänge (Propaganda, Sozialpolitik, Werbung) werden gleichermaßen untersucht wie inoffizielle (private Fotografie). Zudem bezieht die Autorin die unterschiedlichsten Bildmedien ein: Denkmäler, Gemälde, Plakate, Fotografien, Filme, Postkarten, Briefmarken, visuelle Komponenten der sowjetischen Massenfeste und des Pionier- und Schulalltags.
Aufgrund dieses breiten Ansatzes und dank zahlreicher Illustrationen erhalten Leserinnen und Leser einen Einblick in die unterschiedlichsten Bildproduktionen der Sowjetunion, in verschiedene Topoi, "Regime des Blicks, spezifische Kulturen des Sehens, der Wahrnehmung und sich wandelnde[r] Ordnungen von Sichtbarkeit" (11). Letztendlich führt die fehlende Begrenzung jedoch zu mancher Unausgewogenheit und dem Eindruck einer gewissen Beliebigkeit. Dies wird etwa im ersten Kapitel deutlich, in dem Rüthers "Proletkul't", Avantgarde und "Sozrealismus" und letztendlich auch die Produktionsbedingungen in den 1920er und 1930er Jahren in den Blick nimmt. Die Autorin geht hier auf Denkmäler und Gemälde, kurz auf Kinderpublikationen sowie ausführlicher auf Briefmarken und Postkarten ein und ordnet sie in ihre jeweiligen Entstehungszusammenhänge, hinsichtlich ihrer Adressatenkreise und Nutzungsmöglichkeiten ein. Fotografien und Filme bleiben allerdings gänzlich unbeachtet; erst in Kapitel vier beschreibt die Autorin in einer bei anderen Bildmedien zu vermissenden Intensität Hintergrund, Entstehungszusammenhänge und Anwendungsbereiche der Fotografie. Plakate ignoriert die Autorin mit dem Verweis auf existierende Literatur, um sie dann aber gleichwohl als Quellen einzubinden.
In Kapitel zwei nimmt Rüthers Kinderdarstellungen in ihrer Zeitgebundenheit und ikonographischen Traditionen in den Blick. Erscheinen Kinder zunächst als Heilsbringer und Personifizierung der lichten, sozialistischen Zukunft, tritt während des Krieges das Kind als Opfer und Märtyrer einerseits und Held andererseits hinzu. In der Nachkriegszeit stehen Bilder von umsorgten, zufriedenen, gesunden, fröhlichen und - seit dem Tauwetter dann auch - kindlichen und natürlichen Kindern im Vordergrund. Schlaglichtartig zoomt Rüthers in den folgenden Kapiteln in bestimmte Topoi, Darstellungstypologien und Verfahrenstechniken der Bildproduktion hinein. In Kapitel drei steht durch den Fokus auf Pioniere und Schulkinder das "sowjetische", das "Staatskind" im Mittelpunkt, wobei die Autorin eher die Symboliken und Praktiken der Pioniere denn Bilder im materiellen Sinn im Blick hat. Fotografie, ihre stilistische Entwicklung und ihr produktionstechnischer Hintergrund dienen Rüthers in Kapitel vier als Ausgangspunkt, um anhand von Attributen, Sujets und Stil einen Zuwachs an regionalen Spezifika, ein sich änderndes Konsumverhalten und Individualisierungstendenzen insbesondere ab den 1960er Jahren aufzuzeigen. Kapitel fünf ist der Darstellung des Vielvölkerstaates mit seinen inhärenten Hierarchien und als Teil des sowjetischen Gesellschaftsprojekts gewidmet. Ungewollt zeigt Rüthers hier die Grenzen ihres Zugriffs auf, da Bilder von Kindern nur einen kleinen Teil des imperialen und auf Neuerungen und Errungenschaften ausgerichteten Blicks auf die Peripherie darstellen. Die abschließenden Kapitel sind zum einen Tabus und ironischen Verfremdungen gewidmet und zum anderen der nostalgischen Verwertung sowjetischer Bildtraditionen im Nachhinein.
Wiederholt, wenngleich eher am Rande, geht Rüthers auf die gegenseitige Beeinflussung, aber auch die Divergenz offizieller und privater Bildproduktion ein, auf Aneignungspraktiken und Abwandlungen. Ikonographisch führt Rüthers die sowjetischen Kinderdarstellungen auf Vorbilder der christlichen Malerei (Madonnen- und Pietá-Darstellungen) und der romantischen Bildtradition des 19. Jahrhunderts (Verbindung zur Natur) zurück. Eine revolutionäre Bildtradition habe es laut Rüthers aufgrund der politischen Situation im Zarenreich nicht gegeben. Fraglos konnte sich eine revolutionäre Bildproduktion in Russland nur unter erschwerten Bedingungen entwickeln. Allerdings erscheint ein Ignorieren der russischen revolutionären Ikonographie auf Bildpostkarten und in der revolutionären Publizistik ab spätestens 1900 allein aufgrund der Begrenzung auf das Motiv Kind gerechtfertigt. Die Bildtradition des kindlichen Werbeträgers oder Bildentwürfe des Imperialen im Zarenreich ignoriert die Autorin gleichermaßen.
Neben zahlreichen Redundanzen ist in Einzelfällen die Argumentation nicht kohärent. So stellt Rüthers etwa zunächst die These auf, der Sozialistische Realismus habe "neue Formen des Sehens" herausgefordert (39), um dies dann mit dem Verweis auf einen Rückgriff "auf Traditionen des russischen Realismus" (41) sowie ein Anknüpfen im Stalinismus an "vertraute Sehgewohnheiten, aber auch an traditionelle Statussymbole, Archetype und soziale Fantasien" (48) selbst zu widerlegen. Gänzlich unbehandelt bleibt die Umkehr des Erziehungsanspruchs in den 1920er und 1930er Jahren. Gerade in Propagandaplakaten wurden Kinder zu Komplizen des Staates, wenn über sie die Eltern erzogen wurden, wie insbesondere an Plakaten wie "Vater, trinke nicht!" ("Papa, ne pej!", D. Bulanov, 1929) oder "Frau, lerne Lesen und Schreiben!" ("Ženščina! Učiš' gramote", Elizaveta Kruglikova, 1923) deutlich wird. Angesichts des Bedürfnisses, Kinder nach 1945 als zufrieden, strebsam, naturverbunden und kindlich darzustellen oder auch angesichts der beschriebenen Entwicklung der privaten Fotografie von Atelierbildern zu Schnappschüssen, bleibt die Leserin letztendlich mit der Frage zurück, inwieweit hier "spezifisch sowjetische Bildcodierungen" (11) und nicht universellere Entwicklungen europäischer Nachkriegsgesellschaften vorliegen.
Felicitas Fischer von Weikersthal