Cord Eberspächer (Bearb.): Preußen-Deutschland und China 1842-1911. Eine kommentierte Quellenedition. Bearb. von Cord Eberspächer (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz - Quellen; Bd. 74), Berlin: Duncker & Humblot 2021, 592 S., ISBN 978-3-428-18198-8, EUR 109,90
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Auf aktuellen Spuren des deutschen Kolonialismus kann man gegenwärtig auch in Berlin wandeln. Der private Nachlass des "Wandervogels" Karl Fischer, den es vom wilhelminischen Berlin nach China zog, und seine Tätigkeiten zwischen 1906 und 1920 als deutscher Marinesoldat und Journalist in Shanghai werden in einer Ausstellung in Berlin-Steglitz veranschaulicht. [1] Breiter angelegt, aber nicht minder interessant ist die hier anzuzeigende Quellenedition zum deutschen Engagement in Ostasien, die von dem Bonner Sinologen Cord Eberspächer zusammen mit anderen deutschen und chinesischen Wissenschaftlern bearbeitet wurde. Dem Quellenwerk ging bereits 2014 ein Aufsatzband voraus, in dem die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses DFG-geförderten Projekts "Preußen-Deutschland und China 1848-1911" ihre Ergebnisse publizierten. [2]
In dem archivalischen Teil des Projekts ging es darum, die reichen Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin und des Bundesarchivs sowie die bisher kaum bekannten des Ersten Historischen Archivs in Peking zu sichten und zu erschließen. In dem anderen Teil kooperierten Sinologen der Freien Universität Berlin mit Experten der historischen Abteilung der Pekinger Universität. Methodisch orientierten sich die Wissenschaftler am Konzept der Histoire Croisée.
Das Quellenwerk hat das bisher nicht publizierte Material zu den diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern im Auge. Die innen- und außenpolitischen Verhältnisse, insbesondere die Engagements Großbritanniens, Frankreichs, Russlands und Japans in China, erscheinen dagegen nur am Rande. [3] Das Quellenwerk beginnt mit den frühen preußischen Handelsbeziehungen vor dem Ersten Opiumkrieg zwischen Großbritannien und China (1839-1842). Das "Reich der Mitte", auch wegen seiner explodierenden Bevölkerungszahlen und der vielen Minoritäten von Aufständen geplagt, wurde zum Spielball der damaligen Großmächte, zu denen erst in der zweiten Jahrhunderthälfte Preußen-Deutschland hinzustieß. Die Edition endet kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als sowohl die deutsche als auch die chinesische Seite große Erwartungen in den wechselseitigen Kultur- und Wissensaustausch inmitten chinesischer Reformbemühungen setzten. Das Jahr 1911 war eine große Enttäuschung für die kaiserlich-chinesische Seite, als der lange geplante Besuch des deutschen Kronprinzen Wilhelm wegen des Ausbruchs der Pest in Nordchina abgesagt wurde. Wenige Monate später brach das kaiserliche Regime der Qing-Dynastie unter dem Ansturm der Aufständischen aus Wuhan zusammen, [4] und kurz danach wurde unter Sun Yat-sen die Republik begründet.
Die Einleitung enthält einen Bericht über das DFG-Projekt, einen Abriss der deutsch-chinesischen Beziehungen zwischen 1842 und 1911 sowie editorische Bemerkungen. Das Verzeichnis der 150 Dokumente enthält ebenso wie der fünfteilige Hauptteil sachliche und chronologische Strukturen. Zuerst stehen die sogenannten "Protokoloniale(n) Beziehungen" im Mittelpunkt, die von "Preußens Interessen und Chinas Desinteresse bis 1859 " gekennzeichnet waren. Es folgt die Phase, in der sich diese Interessen veränderten. Im Zuge der sogenannten Eulenburg-Expedition wurde der Vertrag von Tianjin zwischen Preußen und China 1861 abgeschlossen, und ersteres zog mit den anderen Großmächten diplomatisch gleich: Preußen wurde zu einem neuen Akteur im kolonialen System. Der dritte Teil widmet sich der chinesischen Gesandtschaft in Berlin und dem allgemeinen chinesischen Ziel der "Selbststärkung". Der folgende Teil bringt die Dokumente zu den "asymmetrischen Handelsbeziehungen im kolonialen System" der Vertragshäfen (Treaty Ports) [5], in denen auch deutsche Militärinstrukteure den Waffenexport beförderten (insbesondere Krupp gegen englische Konkurrenz). Der Versuch wird geschildert, chinesische Arbeiter (Kulis) in den deutschen Kolonien einzusetzen. Im letzten Teil geben die Quellen Aufschluss über den wechselseitigen erhöhten Kultur- und Wissenstransfer durch die Entsendung von Lehrern und Studenten in beiden Richtungen.
Als ein Beispiel für die Bedeutung des neuen, achtzehnjährigen chinesischen Kaisers, der zu dem Zeitpunkt über ein Reich mit 400.000.000 Seelen und einen riesigen Hofstaat herrschte, mag der ausführliche Bericht des deutschen Übersetzers an der Gesandtschaft in Peking, Carl Bismarck, dienen (253-262). Er schildert das modernisierte Zeremoniell bei der Audienz der ausländischen Gesandten im Juni 1873. Der Zug der Gesandten, von einem chinesischen Minister geleitet, setzte sich entsprechend einem detaillierten Programm bereits morgens um 05:30 Uhr in Bewegung. Die Überreichung der Beglaubigungsschreiben und die Überbringung der Glückwünsche an den neuen Kaiser erfolgte mit Verbeugungen und stehend vor dem sitzenden Kaiser - ohne den früher vorgeschriebenen Kotau. Der eigentliche diplomatische Akt dauerte nur wenige Minuten und fand in der Halle des Purpurglanzes (19 mal 16 Meter) des Kaiserpalastes in Peking statt. Alles endete um 09:30 morgens.
Jeder einzelne Teil und dessen Untergliederungen des Quellenwerkes wird eingeleitet und mit Sekundärliteratur belegt. Die dann folgenden Dokumente enthalten die notwendigen Erklärungen in den Fußnoten. Alle Dokumente wurden ins Deutsche übersetzt, was - ebenso wie das diplomatische Deutsch des 19. Jahrhunderts - oft hölzern klingt. Nach dem Verzeichnis der ausgewerteten Archivbestände werden in der Bibliographie die gedruckten Quelleneditionen mit den Tagebüchern, Memoiren und Briefen und ganz zum Schluss die Sekundärliteratur aufgeführt. Ein Personenindex, der leider nur die jeweilige Dokumentennummer und nicht die Seitenzahl angibt, erschließt das Ganze.
Die Berichte der Diplomaten, Regierungsbeamten und Militärs des kaiserlichen Chinas und Preußens bzw. des Deutschen Kaiserreichs waren zu ihrer Zeit nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie sind authentisch, auch und gerade wegen der individuellen Meinungen der Verfasser. Darin liegt ihr besonderer Wert für die Nutzung durch heutige Historiker in beiden Ländern. Ganz allgemein: Auch wegen der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Differenzen zwischen Deutschland und China verdient dieses wissenschaftliche Gemeinschaftsvorhaben mit dieser Quellenedition volle Anerkennung.
Anmerkungen:
[1] Zu Karl Fischer (1881-1941), der 1901 den Wandervogel in Berlin gründete und zwischen 1906 und 1914 als Marinesoldat in Qingdao (Tsingtau) und dann als Zeitungsredakteur in Shanghai wirkte, vgl. Nicola Kühn, Im Frühtau nach China. In: DER TAGESSPIEGEL vom 09.12.2021; s.a. Website der bis zum 15. Mai 2022 laufenden Ausstellung: https://www.berlin.de/ba-steglitz-zehlendorf/auf-einen-blick/kultur/regionalgeschichte/veranstaltungen/spuren-des-kolonialismus-1144309.php (10.02.2022)
[2] Mechthild Leutner u.a. (Hgg.): Preußen, Deutschland und China. Entwicklungslinien und Akteure (1842-1911). Berlin / Münster 2014 (= Berliner China-Studien; Bd. 53).
[3] Dazu kann Nicht-Sinologen empfohlen werden u.a. Kai Vogelsang: Geschichte Chinas, 7. Aufl., Stuttgart 2021, 440-492.
[4] "Der Aufstand von Wuhan war Chinas Sturm auf die Bastille"; ebenda, 490.
[5] Dazu allgemein und zu dem deutschen "Schutzgebiet" um Tsingtau (Qingdao) ab 1898 vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, 423f.
Ekkehard Henschke