Mirjam Reitmayer: Entführung und Gefangenschaft. Erfahrene Unfreiheit in gewaltsamen Konflikten im Spiegel spätmittelalterlicher Selbstzeugnisse (= Spätmittelalterstudien; Bd. 8), Konstanz: UVK 2021, 489 S., ISBN 978-3-7398-3107-7, EUR 59,00
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Felix Brahm / Eve Rosenhaft (eds.): Slavery Hinterland. Transatlantic Slavery and Continental Europe, 1680-1850, Woodbridge: Boydell Press 2016
Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte. Band 2: Frühe Neuzeit. 16. bis 18. Jahrhundert, Stuttgart: Anton Hiersemann 2017
Jutta Wimmler / Klaus Weber (eds.): Globalized Peripheries. Central Europe and the Atlantic World, 1680-1860, Woodbridge: Boydell Press 2020
Vor uns liegt die überarbeitete und gekürzte Fassung einer Dissertation, mit der Mirjam Reitmayer 2014 an Ruhr-Uni Bochum Fakultät für Geschichtswissenschaft bei Nikolas Jaspert promoviert worden ist. Im Mittelpunkt steht die Auswertung von Selbstzeugnissen gefangener Personen aus dem christlichen Europa in der Zeit von etwa 1250 bis 1500. Insgesamt kommen 20 Betroffene zu Wort. In sechs Fällen handelt es sich um transkulturelle Gefangenschaften, d.h. Verschleppungen in muslimische oder andere außereuropäische Gebiete. Die anderen Inhaftierungen spielten sich innerhalb des Heiligen Römischen Reiches ab. Beginnen wir mit den intrakulturellen Gefangenschaften. Reitmayer hat sich folgende repräsentative Beispiele ausgesucht: (1) Gewaltsame Überfälle. Auf dem Rückweg von Prag nach Straßburg gerieten 1395 die beiden Bürger Hans Bock (Johannes von Bock) und Andreas Heilmann sowie der Edelmann Heinrich von Mühlheim (auch: Mullenheim oder Müllenheim) in Gefangenschaft. Obgleich wir wenig weitere biographische Informationen über die Gruppe haben, sind private Schreiben von ihnen erhalten. Georg Reiche, ein Wittenberger Kaufmann, wurde von Hans Kohlhase (gest. 1540), den wir aus Heinrich von Kleist Novelle "Michael Kohlhaas" kennen, gefangen genommen, festgesetzt und für eine Fehde gegen das Kurfürstentum Sachsen verwendet. Auf uns gekommen sind drei Briefe von Georg Reiche sowie eine umfangreiche Korrespondenz, die sich mit seiner Entführung beschäftigt. Briefzeugnisse sowie ein ausführlicher Bericht liegen im Falle von Hieronymus Baumgartner vor, den 1544 auf seiner Rückkehr vom Reichstag in Speyer der Reichsritter Albrecht von Rosenberg (gest. 1572) überfiel. Alle Personen gerieten letztlich in einen Konflikt, an dem sie eigentlich nicht beteiligt waren. Ihre Gefangennehmer nutzten sie, um auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen und Verhandlungen voranzutreiben. Einen anderen Kontext bildeten Kriegsgefangenschaften. Mit Oswald von Wolkenstein (gest. 1445), Friedrich von Flersheim (gest. 1477) und Götz von Berlichingen (gest. 1562) hat sich Mirijam Reitmayer drei recht bekannte Protagonisten ausgewählt. Umfangreicheres epistolarisches Material berichtet zudem über entsprechende Vorfälle aus dem Schwabenkrieg. Fürsten gerieten bisweilen ebenfalls in Gefangenschaft. Während der Schlacht bei Mühlberg (1546) ereilte Johann Friedrich I. von Sachen (gest. 1554) dieses Schicksal. Nicht viel besser erging es Philipp I. von Hessen (gest. 1567) im Schmalkaldischen Krieg (1546-47). Im Juni 1547 musste er sich kaiserliche Gefangenschaft begeben.
Die transkulturellen Gefangenschaften erfolgten in der Regel im Rahmen von christlich-muslimischen militärischen Auseinandersetzungen zu Land und zu Wasser. Nach ihrer Freilassung verfassten eine Reihe von den in der Regel versklavten Personen Berichte über ihre Erlebnisse. Von Johannes Schiltbergers (gest. nach 1427) Aufzeichnungen existiert eine Reihe von Handschriften. Als junger Mann wurde Georg von Ungarn (gest. 1502) von türkischen Truppen gefangen genommen und in das Osmanische Reich gebracht. Seine autobiographisch gefärbte Darstellung "Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia Turcorum" ("Traktat über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken") erschien 1481. Jörg von Nürnberg war ein deutscher Geschützgießer, der 1460 in Bosnien ebenfalls in die Hände der Osmanen geriet. Lange Zeit diente er dem Sultan Mehmed II. (gest. 1481). 1480 gelang ihm die Flucht nach Italien. Ein Jahr später publizierte er eine kurze Abhandlung seiner Erlebnisse mit Exkursen zu den Sitten und Gebräuchen der Türken. 1496 erschien eine verbesserte Fassung, die in der Neuauflage von 1500 um einen Anhang ergänzt wurde.
Zwei Werke hat uns Bartholomej Georgijevič (gest. nach 1566) hinterlassen, der während der Schlacht von Mohács 1526 vorübergehend seine Freiheit verlor: "De captivitate sua apud Turcas" und "De Turcarum ritu et caeremoniis" (beide 1544). Balthasar Sturmer arbeitete auf als Büchsenmeistergehilfe auf spanischen Schiffen, bevor er von türkischen Korsaren versklavt und als Galeerenruderer eingesetzt wurde. 1538 konnte er auf Umwegen zurück in seine Heimatstadt Danzig fliehen, wo er 1558 einen Text zu Papier brachte, der folgenden Titel trägt: "Verzeichnüs der Reise Hr. Balthasar Sturmers vonn Marienburg aus Preussenn gebürtig, von Dantzigk ab nach Lisbona in Portugal, Sicilien vndtt in andere Öertter. Wie er von den Turcken und Mooren gefangen vndtt entlichen wunderbarlicher Weise erlösett worden. Von Ihme selber auffs fleisigste verzeichnett vndt beschrieben." Einen Sonderfall stellt schließlich Hans Staden (gest. 1576) dar, der als deutscher Söldner in Diensten portugiesischer Siedler in Brasilien stand und sich für einige Zeit gegen seinen Willen bei den Tupinambá aufhalten musste. Seine "Wahrhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschaft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschenfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen" (Marburg 1577) ist das erste umfangreiche Werk über Brasilien im deutschsprachigen Raum.
Um am Ende nicht nur eine deskriptive Präsentation dieser case studies und der mit ihnen in Zusammenhang stehenden Ego-Dokumente zu liefern (was natürlich alleine schon sehr nützlich ist), sondern einen Vergleich der Gefangenschaften zu ermöglichen, folgt Reitmayer bei der Analyse der Einzelfälle einem festen Schema. Auf biographische Angaben und Hintergrundinformationen zu den benutzten Selbstzeugnissen folgen Erläuterungen zur Inhaftierung (sowie zu dem Konflikt, in den der Freiheitsentzug eingebunden ist), zur Gefangenschaft selbst (und zu den Verhandlungen für die Freilassung), zu Fluchtversuchen (sofern vorhanden) und zum Ende der Verschleppung sowie zum Leben danach. Der eigentliche Vergleich findet dann in den Zusammenfassungen der phänomenologisch miteinander verflochtenen Fälle (intra- oder transkulturelle Gefangenschaften im Zuge von gewaltsamen Überfällen, militärische Gefangenschaften etc.) statt. Auch hier benutzt Mirjam Reitmayer ein gleichbleibenden Muster, das neun Themenfelder umfasst: (1) Die primäre Motivation/Die Gründe des Konflikts; (2) Die Observierung; (3) Die Gefangennahme; (4) Der Transport; (5) Die Gefangenschaft; (6) Die Verhandlungen; (7) Erfüllung der Forderungen/Flucht; (8) Erlangung der Freiheit; (9) Das Leben nach der Gefangenschaft. Grundsätzlich zeigt sich, dass die Schwellenmomente zwischen den Phasen von großer Relevanz sind, da sie als Weichenstellungen in den Erzählungen fungieren und auf kritische Momente hinweisen können.
Die für die Interpretation benutzte Methode hat Vor- und Nachteile. Zum einen bleiben die Aussagen, die am Ende getroffen werden, ein wenig banal. Viele Dinge hatte man dann doch ohnehin bereits vermutet. Man vermisst eine tiefergehende Analyse der einzelnen Texte und Kontexte. Bedenkt man allerdings, dass innerhalb der Mediävistik diese spätmittelalterlichen Selbstzeugnisse bislang nur sehr wenig behandelt und in einem größeren Zusammenhang gestellt worden sind, so bildet die Arbeit von Mirjam Reitmayer einen guten Ausgangspunkt für eine differenzierte Erforschung der mittelalterlichen Gefangenschaft.
Stephan Conermann