Henning Steinführer / Gerd Steinwascher: Geschichte und Erinnerung in Niedersachsen und Bremen. 75 Erinnerungsorte (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 314), Göttingen: Wallstein 2021, 512 S., 185 Abb., ISBN 978-3-8353-3872-2, EUR 39,00
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Das 75. Gründungsjubiläum der Bundesländer Niedersachsen und Bremen veranlasste die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen e.V., sich in einem repräsentativ gestalteten Band einer Zusammenschau von insgesamt 75 Erinnerungsorten mit Bezug auf die beiden Länder anzunehmen und diese von insgesamt 63 Autorinnen und Autoren porträtieren zu lassen. [1] Erinnerungsorte, so das Konstrukt, werden dem geschichtskulturellen Anlass gemäß in landesgeschichtliche Perspektiven gestellt und einer interessierten Leserschaft, auch jenseits der landeskundigen Erinnerungsgemeinschaften zugänglich gemacht. Lokalisierbare Gegebenheiten, Bauwerke, Denkmäler, Ereignisse, Institutionen, aber auch Personen, Bräuche, Lieder, Legenden und viele andere Phänomene bilden hier das vielfältige Spektrum, das als jubiläumsgemäße Momentaufnahme in Betracht gezogen wurde. Aufsätze zu jeweils sechs Seiten, mit zweckgerechter Bebilderung sowie Quellen- und Literaturhinweisen, markieren dabei die Grundstruktur. Die Interpretinnen und Interpreten bilden ebenfalls ein Spektrum, von Expertinnen und Experten, die sich langjährig für historische und kulturelle Themen der beiden Länder engagiert haben, vielfach im Rahmen der Historischen Kommission, bis hin zum wissenschaftlichen Nachwuchs, ab. Einführend erläutern die Herausgeber prägnant das Gesamtprojekt und dazu das Konzept "Erinnerungsort" im Rahmen des etablierten Ansatzes von Pierre Nora, Etienne François und Hagen Schulze (11-20). Ein Personenindex (495-509) sowie eingearbeitete Querverweise erleichtern die Orientierung in dem komplexen und inhaltsreichen Werk.
Auch wenn die Vielfalt der Inhalte hier nur exemplarisch aufgegriffen werden kann, zeichnet sich das Projekt durch eine Reihe von Merkmalen aus, die sowohl die Konzeption als auch die inhaltlichen Ausführungen betreffen. Die am Jubiläum gemessene Anzahl der Beiträge folgt keiner Sachlogik. Ihre Auswahl selbst gründet auf einer nicht näher spezifizierten Umfrage eines Arbeitskreises der Historischen Kommission aus dem Jahr 2015 sowie Beratungen eines Kommissionsausschusses, die darauf zielten, die Auswahl der Erinnerungsorte derart vorzunehmen, "wesentliche Merkmale und Eigenheiten der niedersächsisch-bremischen Landesgeschichte paradigmatisch" (17) zu erfassen. Angemessen berücksichtigt werde, so die Herausgeber, die exponierte Bedeutung des Gedenkens an die Verbrechen der NS-Zeit (ebd.). Der Leserschaft begegnet somit ein repräsentativer Bestand an verschiedenartigen Erinnerungsorten und der Versuch, die beiden Länder erinnerungskulturell und ausgewogen auf einen Nenner zu bringen. Die damit einhergehende Frage, ab wann ein Phänomen eigentlich in den Rang eines landesgeschichtlichen Erinnerungsortes gehört und wie repräsentativ die dazugehörige Erinnerungsgemeinschaft sein soll, bleibt der schwierig fassbaren und zugleich heterogenen Materie entsprechend unscharf. Die meisten gewählten Erinnerungsorte gehen in ihrer Entstehungsgeschichte auf die Zeit vor der Gründung der Bundesländer, also auf ihre Vorgängerterritorien zurück und reichen dabei über die Epochen hinweg bis zu den Überresten der Varusschlacht. [2]
Während zahlreiche der behandelten Erinnerungsorte wahrscheinlich vielen Zeitgenossen beim Thema Niedersachsen, beziehungsweise Bremen, unmittelbar in den Sinn kämen, so vermutlich die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen [3], der Rattenfänger von Hameln [4], der Bremer Roland [5] oder die niedersächsische Zuckerindustrie [6], um beliebige Beispiele zu nennen, finden sich unter der Auswahl auch einzelne Erinnerungsorte, die trotz ihrer zweifellosen Bedeutung vermutlich selbst den mit der Landesgeschichte näher vertrauten Rezipientinnen und Rezipienten weniger bekannt sein dürften, etwa die Israelitische Gartenbauschule Ahlem [7] oder die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen. [8] Andere Beispiele, die man möglicherweise erwartet, vielleicht das seit 1910 ausgetragene Sechstagerennen in Bremen oder die in Hannover ausgerichtete Weltausstellung EXPO 2000, haben es hingegen nicht in den Rang der 75 Erinnerungsorte geschafft.
Anzusprechen sind ebenfalls die den Bearbeitungen zugrundeliegenden Zuschnitte mancher Erinnerungsorte, bei denen man sich in Einzelfällen fragt, ob diese anlassgemäß nicht unter anderen Schwerpunkten zu fassen gewesen wären. In der Tat lassen sich die 14 Nobelpreisträger der Universität Göttingen als Erinnerungsort würdigen. [9] Dasselbe gilt in jedem Fall auch für die "Göttinger Sieben" in ihrer Geschichte und Bedeutung. [10] Wäre aber nicht die Georgia Augusta selbst, eine Gründung aus der Zeit der Personalunion (1714-1837) (216), die über bald 300 Jahre hinweg prägende Persönlichkeiten der Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur hervorgebracht hat, der eigentlich zu formulierende Erinnerungsort unter den 75 Beispielen gewesen? Ähnliches gilt für "Max und Moritz" und ihren Schöpfer Wilhelm Busch (1832-1908). Ungeachtet der sachkundigen Darlegung des Interpretationspotenzials dieser Lausbubengeschichten durch Gert Ueding [11] wäre zu fragen, ob nicht der Künstler selbst und sein vielfältiges dichterisches, graphisches und malerisches Werk, das in der allgemeinen Wahrnehmung zeitübergreifend oft nur verkürzt und weitgehend vordergründig erfasst wurde, als eigentlicher Erinnerungsort in den Blick zu nehmen wären.
Die redaktionellen Vorgaben mögen sich bei der Vielfalt der Themen vermutlich auf ein Minimum beschränkt haben. In jedem Fall wäre jedoch die Frage nach der Wahrnehmung des jeweiligen Erinnerungsortes seit der Gründung der Bundesländer Niedersachsen und Bremen, dessen erinnerungs- und geschichtskulturelle Präsenz während der zurückliegenden 75 Jahre sowie dessen jeweilige Bedeutung für die Länder systematischer herauszustellen gewesen. Dieses wird von den Verfasserinnen und Verfassern in sehr unterschiedlicher Weise gehandhabt. Beiträger, wie Bernd Küster, der die Künstlerkolonie Worpswede porträtiert [12], oder Johannes Laufer, der sich der Lüneburger Heidelandschaft widmet [13], um nur zwei Beispiele zu nennen, reflektieren den Aufstieg ihres Erinnerungsortes systematisch, gehen dabei auch auf Fehlwahrnehmungen sowie die Bedeutung der jeweiligen Medienkultur und des Tourismus ein (237, 342). Bei vielen anderen Beiträgen fallen die Ausführungen dazu viel zu kursorisch aus, mitunter ohne das Zeichenlimit ihres Aufsatzes auszuschöpfen. Arndt Reitemeier bilanziert hingegen treffend in seinem Beitrag über die Personalunion [14], dass diesem verfassungshistorisch und kulturell bedeutendem Thema die rezipierende Erinnerungsgemeinschaft und die geschichtskulturelle Konkretisierung schlichtweg fehle (219). Aber auch das ist ein Phänomen von "Geschichte und Erinnerung" in Niedersachsen. Die erzielten Erträge aus der Behandlung der 75 Orte, deren landesgeschichtlich spezifische Merkmale sowie die praktizierten Erinnerungskulturen hätten auch Gegenstand eines bilanzierenden Schlusskapitels werden können, auf das die Herausgeber jedoch leider verzichtet haben.
Im Gesamtblick bleibt ein in vielfacher Hinsicht nützliches und lehrreiches Werk, das in unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung finden kann. Die prägnanten Ausarbeitungen geben eine kompakte Zusammenschau landesgeschichtlicher Themen, bündeln Expertenwissen, präsentieren Quellenbeispiele und verweisen auf maßgebliche Literatur. Sie laden dazu ein, sich eingehender mit der Geschichte der zwei Länder zu befassen. Unabhängig von Jubiläen kann das Werk auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Bundesländer als Anregung für ähnliche Projekte dienen. Ein besonderes Potenzial dieses Bandes kann zudem hinsichtlich der schulischen Geschichtsvermittlung gesehen werden. Für die Herausgeber ist das Werk aber noch nicht abgeschlossen. Diese haben eine Weiterführung des Projekts im Rahmen eines Onlineportals in Aussicht gestellt (18).
Anmerkungen:
[1] Demselben Anlass folgt ein Parallelprojekt des Niedersächsischen Landesarchivs, auf das hier lediglich hingewiesen werden soll: Sabine Graf / Gudrun Fiedler / Michael Hermann (Hrsg.): 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten (Veröffentlichung des Niedersächsischen Landesarchivs 4), Göttingen 2021.
[2] Heidrun Derks: Die Varusschlacht, in: Geschichte und Erinnerung in Niedersachsen und Bremen. 75 Erinnerungsorte, hg. von Henning Steinführer / Gerd Steinwascher, Göttingen 2021, 21-27.
[3] Jens-Christian Wagner: Bergen-Belsen, in: Ebd., 419-424.
[4] Hans-Jörg Uther: Der Rattenfänger von Hameln, in: Ebd., 87-92.
[5] Jörn Brinkhus: Der Bremer Roland, in: Ebd., 123-129.
[6] Karl H. Schneider: Zuckerfabriken, in: Ebd., 335-340.
[7] Marlis Buchholz / Hans-Dieter Schmid: Israelitische Gartenbauschule Ahlem, in: Ebd., 329-334.
[8] Hedwig Thelen: Die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, in: Ebd., 395-400.
[9] Holger Berwinkel: Göttinger Nobelpreisträger, in: Ebd. 353-358.
[10] Jörg H. Lampe: Die Göttinger Sieben, in: Ebd., 275-280.
[11] Gert Ueding: Wilhelm Busch: "Max und Moritz", in: Ebd., 305-310.
[12 ] Bernd Küster: Worpswede, in: Ebd., 323-328.
[13] Johannes Laufer: Die Lüneburger Heide, in: Ebd., 341-346.
[14] Arnd Reitemeier: Die Personalunion, in: Ebd., 215-220.
Michael Wobring