Konrad J. Kuhn / Martin Nitsche / Julia Thyroff u.a. (Hgg.): ZwischenWelten. Grenzgänge zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Geschichtsdidaktik und Politischer Bildung. Festschrift für Béatrice Ziegler, Münster: Waxmann 2021, 422 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-4337-2, EUR 54,90
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Martin Nitsche: Beliefs von Geschichtslehrpersonen - eine Triangulationsstudie, Bern: hep Verlag 2019
Julia Thyroff / Béatrice Ziegler (Hgg.): Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung, Zürich: Chronos Verlag 2020
Julia Thyroff: Aneignen in einer historischen Ausstellung. Eine Bestandsaufnahme von Elementen historischen Denkens bei Besuchenden der Ausstellung «14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg», Bern: hep Verlag 2020
Wer angesichts des Untertitels dieses Sammelbandes von einer Konzeption ausgeht, in der kulturwissenschaftliche Disziplinen [1] ihr Verhältnis zur Geschichtsdidaktik und zur Politischen Bildung bestimmen, irrt. Der Titel "ZwischenWelten" markiert in den vier Rubriken "ZwischenZeitRäumen", "ZwischenDisziplinen", "ZwischenBegriffe(n)" und "ZwischenMethode(n)" das vielfältige Œuvre der durch den Band geehrten Schweizer Neuzeithistorikerin und Geschichtsdidaktikerin Béatrice Ziegler, das "sich [...] zwischen Zeiten, Räumen, Sprachen, Bedeutungsfeldern und Disziplinen bewegt" (10). Die so bedingte Beitragsvielfalt wurde nur grob in ein systematisches Konzept integriert.
Den ersten Teil "ZwischenZeitRäumen" eröffnet der Luzerner Geschichtsdidaktiker Markus Furrer mit einer Schulbuchuntersuchung zu Perspektiven auf migrationsgeschichtliche Zusammenhänge (21-22). Nach der zunächst dominierenden nationalgeschichtlichen Perspektive (23, 28-29) und einer in den 1970er Jahren durch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Impulse ermöglichten Beachtung der Schweizer Überseemigration (25, 28) werden "[e]rst in den neuesten Lehrmitteln" verspätet und zaghaft "die theoriegeleiteten und am Prozess orientierten Ansätze einer Migrationsgeschichte sichtbar" (30). Furrer legt Wert darauf, Migration als gesellschaftlichen Wandel bedingenden substanziellen Faktor darzustellen.
Der Berner Geschichtsdidaktiker Philipp Marti geht bei seiner Frage nach den geschichtsdidaktischen Potenzialen der Globalgeschichte von Zweckmäßigkeiten statt Motiven für das historische Lernen aus (131-132), indem er einseitig an die Kompetenzorientierung (im FUER-Modell) anknüpft. [2] Er führt im Anschluss an Bernd-Stefan Grewe verschiedene Hindernisse einer "globalhistorischen Orientierung" (136) aus, so zum Beispiel die Entgegensetzung unterschiedlicher räumlicher Bezugsebenen (regional - national - global), eurozentrische Perspektiven in den Curricula sowie die Überbetonung verflechtungsgeschichtlicher Zusammenhänge. Dabei übergeht er Konzepte zur multiplen Identität [3], steht in der Gefahr, die in den 1990er Jahren favorisierte europäische Dimension (beispielsweise des Geschichtsunterrichts) mit Eurozentrismus gleichzusetzen [4] und übersieht Möglichkeiten des verflechtungsgeschichtlichen Ansatzes. [5]
Die zweite Rubrik des Sammelbandes "ZwischenDisziplinen" enthält einen Versuch zur Bestimmung des Selbstverständnisses der Geschichtsdidaktik, das der Luzerner Zunftvertreter Peter Gautschi als Resultat wissenschaftlicher Selbstverortung und institutioneller Zuordnung im Bezugsfeld zwischen einer als Kulturwissenschaft apostrophierten Geschichtswissenschaft und der Erziehungswissenschaft angesiedelt sieht (188). Für die außerschulische Geschichtsvermittlung ist nach Gautschi die Geschichtsdidaktik erst gefragt, wenn neben dem Unterhaltungs- der Bildungsanspruch geltend gemacht wird (195), so dass in ihr eine "Design Science" (197) gesehen werden könne. So gewinnt sie einen "anwendungsbezogenen Konstruktcharakter" (198), der aber Karl-Ernst Jeismanns formulierten Anspruch einer Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft [6] erheblich verkürzt.
Simon Affolter und Vera Sperisen vom Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Fachhochschule Nordwestschweiz sehen das Thema Migration als Bestandteil einer Politischen Bildung, die im Austausch mit Politikdidaktik, Migrationsforschung, Migrationspädagogik und Praxis steht, um "hegemoniale Wissensordnungen" (einschließlich eines "strukturellen Rassismus") zu durchbrechen (239-240). Anknüpfungsmöglichkeiten sehen sie im 'Transnational Turn' der Migrationsforschung (243), um die Gefahren der Reproduktion "natio-ethno-kulturelle[r] Zuschreibungen" (246) der dominanten interkulturellen Pädagogik mit ihrem Respekt vor der kulturellen Heterogenität und der Toleranz gegenüber Unterschieden zu umgehen. Diese sehr verkürzende Sicht wird allerdings dem auch in vielen Fachdidaktiken berücksichtigten Prinzip der Interkulturalität [7] nicht gerecht.
Die Geschichtsdidaktikerin Julia Thyroff beschäftigt sich mit einem immer wieder diskutierten Thema: der Berücksichtigung kontroverser Geschichte(n) im Geschichtsunterricht aus der Einsicht der Perspektivität jeglicher Aussage in der und über die Geschichte, aus der Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit entstehen (251). Aus einschlägigen Schulbuchuntersuchungen geht hervor, dass Kontroversität allenfalls im Ansatz Niederschlag findet (253). Klaus Bergmanns bekannter Differenzierung von Multiperspektivität (der Quellen), Kontroversität (der Darstellungen) und Pluralität (der Sichtweisen der Rezipientinnen und Rezipienten) [8] setzt Thyroff einen ausgeweiteten Kontroversitätsbegriff entgegen, der Interessegebundenheit und Identitätsrelevanz aufweist, Emotionen einschließt und gesellschaftliche Spannungen einkalkuliert, denn "Themen sind [...] nicht 'per se' kontrovers, sondern sie werden es dadurch, dass Menschen in spezifischen Kontexten sie als kontrovers empfinden und diskutieren" (255-256). Sie orientiert sich bei ihren Ausführungen an den Methodenkompetenzen des FUER-Modells. Für die Politikdidaktik stellt sie fest, dass Urteils- und Handlungskompetenz durch die unterrichtliche Befassung mit kontroverser Geschichte empfohlen werden (261). Ihr Plädoyer führt einmal mehr die Bedeutung der Berücksichtigung kontroverser Geschichte(n) vor Augen, wenn es um reflektiertes Geschichtsbewusstsein und die Befähigung zu politisch-gesellschaftlicher Teilhabe und Teilnahme geht.
Der letzte Beitrag dieser Rubrik zielt auf einen Vergleich zwischen neueren geschichts- und politikdidaktischen Entwicklungen, der sich - so der Politikdidaktiker Georg Weißeno - durch Betrachtung der Kompetenzorientierungen beider Bereiche schärfen lässt. Während sich die Geschichtsdidaktik mit den historischen De-Konstruktionsversuchen einer unwiederbringlichen Vergangenheit in historischen Narrationen auseinandersetzt, will die Politikdidaktik politische Prozesse der Entscheidungsfindung mit dem Ziel der Befähigung zur demokratischen Teilnahme erhellen (271). Beiderseits werden Entwicklungen und Prozesse zur Orientierung in der Gegenwart und zur Gestaltung der Zukunft (273) in den Blick genommen. Ein deutlicher Unterschied zeigt sich bei den wählbaren Themen im Modell der Politikkompetenz (276), denen das an Konzepten orientierte, aber die Benennung von Gegenständen vermeidende FUER-Modell gegenübersteht (278). Die Beobachtungen Weißenos leiden unter seiner Engführung hinsichtlich der Kompetenzmodelle.
Der dritte Komplex "ZwischenBegriffe(n)" wird eingeleitet durch einen Beitrag des Hamburger Geschichtsdidaktikers Andreas Körber, der die Auffassung über faktenbasiertes Historisches Lernen im Geschichtsunterricht mit Sam Wineburgs Aussage kontert, dass "historisches Wissen nicht Grundlage und Ausgangspunkt historischen Denkens, sondern [...] dessen Ergebnis" (284) sei. Der Verweis auf Karl-Ernst Jeismann läuft hier ins Leere, denn dessen Stufung der historischen Urteilsbildung nach Sachanalyse, Sachurteil und Werturteil setzt den historischen "Sachverhalt" [9] voraus. Körber sieht Fakten als "mentale Zusammenfassungen von Facetten vergangenen Lebens, Handelns, Leidens und Seins [...,] denkend und urteilend gewonnene Komplexe aus Kenntnissen, Unterscheidungen und Bedeutungszuweisungen" in fortlaufender Reflexion und Aushandlung (286). Er stellt sie grundsätzlich unter einen "Vorläufigkeitsvorbehalt" (ebenda). Doch sind weniger die Fakten als ihre Feststellung und kontroverse Erörterung abhängig von konkreten Kommunikationssituationen, so dass (vor dem Hintergrund des propagandistisch begleiteten russischen Angriffskrieges in der Ukraine mit besonderer Dringlichkeit) die Frage gestellt werden muss, was die Ausführungen Körbers in einer Zeit der 'Fake News' und 'Alternative Facts' bedeuten könnten.
In seinem in der letzten Rubrik "ZwischenMethode(n)" aufgenommenen Beitrag unterscheidet Bodo von Borries für die 'Oral History' Forschungsmethode, Zeitzeugenbefragungen im Geschichtsunterricht und lebensgeschichtliche Erinnerungen als Teil familiärer Konversation. Er betont, dass die 'Oral History' andere Methoden der Geschichtsvermittlung keinesfalls ersetzen, sehr wohl aber ergänzen könne (369), und er sieht dann einen besonderen Wert, wenn "persönliche Erlebnisse und Erfahrungen als 'Mikrohistorie' jeweils mit allgemeinen Strukturen und Prozessen der 'Makrohistorie' zu verbinden" (381) sind.
Die erwähnten Aufsätze enthalten selten grundsätzlich neue Perspektiven, wohl aber weisen sie nachvollziehbar auf die anhaltende, zum Teil reaktualisierte Relevanz der thematisierten Aspekte hin, die in einigen Beiträgen in sich bedingenden oder ergänzenden Gegenständen und Methoden wie Migration, Globalgeschichte und Kontroversität konvergieren. Daneben enthält der Band Ausführungen aus benachbarten Wissenschaften, so etwa die als Polemik formulierte Besorgnis des Basler Kulturwissenschaftlers Walter Leimgruber über die Inadäquanz kulturwissenschaftlicher Konzepte angesichts von Krisen wie der Corona-Pandemie oder die Gedanken des Züricher Rechtswissenschaftlers Andreas Glaser, Politische Bildung zur Voraussetzung für die Ausübung des Stimmrechts in der Schweiz zu machen. Daneben gibt es thematisch abweichende Beiträge zum Beispiel der Baseler Neuzeithistorikerin Regina Wecker zu jüngst debattierten demokratiekritischen und jüdische Menschen herabsetzenden Äußerungen durch den im Zusammenhang mit den Neuen Kulturwissenschaften als Vordenker gefeierten Kunsthistoriker Jacob Burckhardt oder des Salzburger Geschichtsdidaktikers Christoph Kühberger zu stereotypes Denken materialisierenden Spielzeug-Indianern. Die Publikation entzieht sich so vereinenden thematischen Linien und leidet unter einer gewissen Inkohärenz, beinhaltet aber auch Originalität, die als Qualität gesehen werden kann.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche etwa die in Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hgg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen -Ansätze - Perspektiven, Stuttgart / Weimar 2008 in Einzelbeiträgen berücksichtigten Disziplinen.
[2] Andreas Körber / Waltraud Schreiber / Andreas Schöner (Hgg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007.
[3] Wilfried Loth: Die Mehrschichtigkeit der Identitätsbildung in Europa. Nationale, regionale und europäische Identität im Wandel, in: Europäische Identität. Paradigmen und Methodenfragen, hg. von Ralf Elm, Baden-Baden 2002, 93-109.
[4] Horst Gies (Hg.): Nation und Europa in der historisch-politischen Bildung, Schwalbach / Ts. 1998.
[5] Michael Werner / Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung, in: Geschichte und Gesellschaft 28/4 (2002), 607-636.
[6] Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart, in: Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie, hg. von Erich Kosthorst, Göttingen 1977, 9-33, hier 2.
[7] Hans H. Reich / Alfred Holzbrecher / Hans Joachim Roth (Hgg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch, Opladen 2000.
[8] Klaus Bergmann: Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach / Ts. 2000, 30.
[9] Karl-Ernst Jeismann: "Geschichtsbewusstsein". Überlegungen zur zentralen Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik, in: Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, hg. von Hans Süssmuth, Paderborn 1980, 170-222, hier 208.
Eugen Kotte