Maak Flatten: Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966-1969) (= Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 111), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2021, 759 S., ISBN 978-3-8012-4277-0, EUR 64,00
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In Willy Brandts politischer Laufbahn stehen die beinahe drei Jahre als Außenminister zweifelsohne im Schatten seiner viereinhalb Jahre als Bundeskanzler. Die Große Koalition gilt als Zeit des Nachdenkens und des Austestens, als Versuchslabor für die darauffolgende Ostpolitik, mit der Brandt Geschichte schrieb. Maak Flatten wirft in seiner detailreichen Studie die Frage auf, ob diese Einschätzung zutrifft. Der Autor blickt aber nicht nur auf die Deutschland- und Ostpolitik des Bundesaußenministers, er behandelt fast den gesamten Tätigkeitsbereich, also auch die NATO, die in dieser Zeit den Harmel-Bericht erarbeitete, die EWG-Vertiefung und -Erweiterung sowie die Beziehungen zu den engsten Verbündeten Großbritannien, Frankreich und den USA.
Vorrangig stützt sich Flatten auf das Politische Archiv des Auswärtigen Amts und auf die Nachlässe von Willy Brandt, Egon Bahr und Kurt Georg Kiesinger. Diese Drei sind auch die Protagonisten des Buches. Die einschlägige Sekundärliteratur hat der Autor in extenso gesichtet. Die Auseinandersetzung mit dem bisherigen Stand der Forschung ist eine der Stärken des Buches; dabei schreckt der Autor nicht vor klaren Urteilen zurück.
Flatten geht der Frage nach, was denn Brandts Politik von der seiner Vorgänger unterschied. Neu war, so eine seiner Antworten, nicht die Wiedervereinigung als Vorbedingung für Entspannung zu fordern. Neu war auch der direkte Dialog mit Moskau statt Gerhard Schröders Politik der Umgehung der Sowjetunion. Zugleich aber lehnte Brandt Kiesingers Vorstellung ab, man brauche nur mit Moskau zu verhandeln, nicht auch mit Ostberlin und Warschau. Die DDR einzubeziehen, war "das eigentliche neue Element in der Ostpolitik der Großen Koalition" (684). Diese und weitere Neuerungen kamen von der SPD, nicht von der Union. Die Union war nur zum "abstrakten" Gewaltverzicht bereit, die SPD zum "konkreten", der unter anderem die Anerkennung der DDR als Staat einschloss. Dass Letzteres unumgänglich war, musste Brandt in seiner Ministerzeit lernen. Nicht bereits bei Amtsantritt, aber dann doch ab Mitte 1967 bezeichnete er die DDR als Staat, nachdem er erkannt hatte, dass dies für Moskau Vorbedingung für Verhandlungen war.
Bahr und Brandt zielten auf ein europäisches Sicherheitssystem ab. Es sollte auf den vorhandenen Realitäten aufbauen, eine spätere europäische Friedensordnung hingegen den Ost-West-Konflikt überwinden und damit auch die deutsche Teilung. Bei Brandt lag dieser Idee nicht eine Spielart der Konvergenztheorie zugrunde, der zufolge die Industriegesellschaften des Ostens und des Westens sich in ihrer inneren Verfassung mehr oder weniger von selbst annähern würden; für ihn war es ein asymmetrischer Prozess, geprägt von der überlegenen Anziehungskraft des westlichen Modells. Aber weder hier noch in der deutschen Frage folgte Brandt, anders als Bahr, einem festen Plan. Er konstruierte keine Modelle, sondern betrieb eine "pragmatische Herangehensweise" (710).
Herbert Wehner und Helmut Schmidt hatten in dieser Zeit wenig Einfluss auf die Entwicklung von Brandts ostpolitischen Vorstellungen, und auch Egon Bahr war nicht einfach der Vordenker, dessen Gedanken der Außenminister nur in die Tat umsetzte. Brandt selbst lieferte Analysen und Konzepte, wie Flatten immer wieder hervorhebt, und er war es, der als Minister entschied, was von Bahrs Ideen weiterverfolgt werden sollte und was nicht.
Die Union wirkte als Bremser. Der zentrale Dissens in der Koalition betraf die Frage, "ob die Anerkennung des Status quo die Voraussetzung für seine Veränderung war oder seine Zementierung bedeutete" (694). CDU und CSU vertraten Letzteres. Es gab in der Regierung keinen außenpolitischen Konsens. Damit widerspricht Flatten nicht nur Philipp Gassert, sondern auch seinem akademischen Lehrer Klaus Hildebrand. "Das Ergebnis der Differenzen, Kontroversen und Formelkompromisse war eine schillernde Ambivalenz der Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition" (695). Mehrfach widerspricht der Autor der These, dass in der Ost- und Deutschlandpolitik bereits in der Großen Koalition schon vieles von dem angelegt war und begonnen wurde, was dann die Regierung Brandt/Scheel nur fortsetzen musste. "In gewissem Sinne gab es gar keine 'Ostpolitik der Großen Koalition'" (701). Nur Brandts Politik als Außenminister, nicht die des Unions-Teils der Großen Koalition, bereitete die sozialliberale Ostpolitik vor, aber es war für Brandt noch eine Phase "des Suchens, Tastens und Tarierens" (703), eine "Findungsphase" (711), nicht am Reißbrett, sondern durch praktische Politik.
Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 war ein Rückschlag für die Entspannungspolitik, aber nicht ihr Ende. "Vom Ziel der Entspannung und der Transformation [des Ostens] ließ man auch künftig nicht ab. Man postulierte es nur nicht mehr so laut" (699). Dem widerspricht nicht, dass Brandt sich bereits 1967 gegen den Begriff "Wiedervereinigung" aussprach, suggeriere dieser doch die Rückkehr zu den Grenzen von 1937. Es konnte nur noch um die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR gehen, aber diese war Brandts festes Ziel.
Die Entspannungspolitik war bei Weitem nicht das einzige Politikfeld, auf dem Brandt unterwegs war. Er versuchte, die westeuropäische Einigung fortzuführen, denn er teilte nicht Bahrs Furcht, sie könne die deutsche Einheit verhindern. In der Praxis bestand seine Europapolitik zuallererst darin, ein Auseinanderbrechen der Sechsergemeinschaft zu verhindern. Wenn dies auch gelang, so verzögerte sich doch die von Brandt unterstützte Erweiterung der EWG um Großbritannien und andere Länder.
Der Außenminister brachte die Beziehungen zu Frankreich und den USA in Ordnung. Gegenüber Paris war das nicht einfach. Die dortige Regierung machte Bonn mitverantwortlich für den Einmarsch in die ČSSR, denn die Bundesregierung habe sich zu sehr in den "Prager Frühling" eingemischt. Gegenüber dem Vietnamkrieg zeigte Brandt eine überaus große Zurückhaltung. Dass er die USA nicht öffentlich anprangerte, überrascht angesichts von Brandts Verständnis von Außenpolitik nicht. Er verfügte über eine, wie er 1967 erklärte, "moralische Position", lehnte aber eine "moralisierende Politik" (232) ab. Allein: Es unterblieben auch stille Bemühungen um eine Kurskorrektur der USA in Vietnam. Der Autor erklärt dies so: "Den Wert des Bündnisses mit den USA schätzte Brandt realistisch höher ein als den eines Ausdrucks moralischer Empörung" (239).
Zu Brandts realistischer Außenpolitik gehörte auch, Beziehungen zu allen Staaten zu unterhalten, ob ihr Regierungs- und Gesellschaftssystem ihm gefiel oder nicht. Ging es dabei um Griechenland, Portugal und Spanien, behagte dies nicht jedem in der SPD und noch weniger den dortigen Genossen.
Flattens Arbeit ist zugleich grundlegend und bahnbrechend: In ihrer Ausführlichkeit nicht mehr zu übertreffen, liegt nun eine Studie vor, die für alle weiteren Forschungen ein festes Fundament schafft, und die in ihrer intensiven und stets klug argumentierenden Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung Leserinnen und Lesern eine Schneise durch die bisher unübersichtliche Landschaft widerstreitender Interpretationen von Brandts Politik als Außenminister schlägt. Eine präzise Bilanz am Ende des Buches fasst noch einmal die zentralen Argumente zusammen. Das einzige nennenswerte Manko ist das Fehlen eines Personenregisters, sodass zum Beispiel eine systematische Suche nach Erkenntnissen über Helmut Schmidt oder Herbert Wehner mühselig ist.
Bernd Rother