Judith C. Enders / Raj Kollmorgen / Ilko-Sascha Kowalczuk (Hgg.): Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Transformation und Vereinigung, Frankfurt/M.: Campus 2021, 550 S., ISBN 978-3-593-51436-9, EUR 39,95
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Thomas Großbölting / Raj Kollmorgen / Sascha Möbius u.a. (Hgg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen: Klartext 2010
"Deutschland ist eins: vieles" - so lautete das Motto der im Frühjahr 2019 vom damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer berufenen 22-köpfigen Kommission, die sich mit Stand und Perspektiven der deutschen Einheit befasste und im vergangenen Jahr ihren Abschlussbericht sowie als Nachklapp die in Auftrag gegebenen Gutachten unter ebenjenem Titel vorgelegt hat. So einprägsam der programmatische Slogan zum 30. Jahrestag des Mauerfalls und der deutschen Wiedervereinigung daherkommt, so banal wirkt er leider auch. Er verkommt erst recht zu einer bestenfalls noch PR-tauglichen Worthülse, wenn man sich den Auftrag und die Zusammensetzung der Kommission näher ansieht. So stand ausschließlich der "Osten" im Fokus der Diskussionen, über dessen Tragfähigkeit als Analysebegriff man trefflich gestritten habe; der "Westen" hingegen blieb außen vor, obwohl Raj Kollmorgen die Dimension der Ko-Transformation im einführenden Beitrag explizit betont. Auch bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder scheint man sich mit einer "ostdeutschen" Mehrheit zufriedengegeben zu haben, ohne dabei die Vielgestaltigkeit des "Ostens" zu berücksichtigen. So hat man auf überwiegend bekannte Personen und Amtsträgerinnen beziehungsweise Amtsträger aus Politik, Kultur und Wissenschaft zurückgegriffen, was viel über politische Praktiken, Zwänge und Deutungsregime aussagt. Versäumt hat man es dagegen, bislang marginalisierte Positionen, etwa von Migrantinnen und Migranten oder zivilgesellschaftlichen Akteuren, einzubinden. Immerhin fiel das Geschlechterverhältnis nur sehr knapp zugunsten von Männern aus (zwölf Männer, zehn Frauen). Man hätte aber gern mehr über die Kriterien erfahren, die der Auswahl von Mitgliedern, Gutachtenden oder Themen jenseits der postulierten politischen Brauchbarkeit und Vielfalt zugrunde lagen.
Die im vorliegenden Band publizierten Beiträge geben einen guten, wenngleich nur ausschnitthaften Einblick in die aktuelle Transformationsforschung. An dieser Stelle können die jeweils über einhundert Seiten langen und in Fragestellung, Zugriff und Quellen sehr heterogenen und überdies inhaltsreichen Beiträge nicht in allen Einzelheiten besprochen werden. Stattdessen werden sie danach befragt, was Historikerinnen und Historiker aus ihnen mitnehmen können. Und das ist nicht wenig.
Schon die Einführung von Judith C. Enders, Raj Kollmorgen und Ilko-Sascha Kowalczuk liefert nicht nur eine ausgiebige Zusammenfassung der Theorien und Zugriffe der Transformationsforschung seit 1990. Sie systematisiert letztere auch nach historischen Phasen, an denen sich eine noch ausstehende Wissenschafts- und Wissensgeschichte der Transformation orientieren und abarbeiten kann, wie sie etwa von Kerstin Brückweh eingefordert wird. Stoff für spannende historische Tiefenbohrungen bieten dabei die Hinweise auf die Verdrängung ostdeutscher Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler durch westdeutsche Deutungseliten in den frühen 1990er Jahren. Diese Tiefenschärfe fehlt dem allzu knapp geratenen Abschnitt zur historischen Transformationsforschung leider.
Wolfgang Schroeder und Daniel Buhr, die sich anschließend im ersten Gutachten mit vergangenen Institutionentransfers (Tarifautonomie, Gesundheitswesen) und möglichen Lehren für aktuelle wirtschaftliche Transformationen im Osten befassen, weisen auf die Bedeutung "ostdeutscher" Rezeptionsweisen und Weiterentwicklungsarbeit für (gelingende) Institutionentransfers hin und relativieren damit die starre These von der westdeutschen "Übernahme" - eine Perspektive, die auch für künftige historische Forschungen zielführend erscheint und zugleich Raum für Erweiterungen in Richtung Ko-Transformation bietet.
Kritik ruft dagegen der zweite Beitrag von Tom Thieme und Tom Mannewitz hervor, die sich anhand von quantitativen Daten mit den Einstellungen Ostdeutscher beschäftigen. Zwar ist ihrem Plädoyer, "ostdeutsche" Identitäten stets in Relation zu lokalen, regionalen, nationalen und globalen Bezugsräumen und Trends zu sehen, zuzustimmen. Unbehagen bereitet jedoch der allzu unkritische Umgang der Autoren mit ihrer (nicht aus eigenen Forschungen gewonnenen) Datengrundlage. Gerade diese quellenkritische Dimension aber gehört zu den zentralen Fragen der historischen Transformationsforschung, die selbst zunehmend auf sozialwissenschaftliche Daten als Quellen zurückgreift, und es wäre zu wünschen, dass auch aktuelle Rohdaten für künftige historische Forschungen archiviert und zugänglich gemacht werden.
Als besonders anregend erweist sich der dritte Beitrag von Michael Lühmann, der thematisch an Thieme und Mannewitz anschließt, weitere Variablen ergänzt (Generation, Geschlecht, soziale Lage) und zugleich einen methodischen Kontrapunkt zu deren Beitrag setzt. Indem Lühmann Konstruktionsprozesse "ostdeutscher" Identitäten beleuchtet, legt er nicht nur konkrete methodische Probleme offen, sondern plädiert zudem für eine Erweiterung der Perspektive über den Ost-West-Vergleich hinaus zu osteuropäischen Kontextualisierungen - das kann man aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft nur unterstreichen. Schließlich erweist sich sein kursorischer Blick auf die lange Geschichte des sächsischen Exzeptionalismus seit dem Kaiserreich als auch für Historikerinnen und Historiker spannendes Diskussionsangebot. Bei anderen Vorschlägen, etwa kontrafaktische Geschichtsschreibung in die politische Bildungsarbeit einzubeziehen, scheint dagegen einige Skepsis angebracht.
Anschließend widmet sich das vierte, sozialpsychologische Gutachten von Oliver Hidalgo und Alexander Yendell dem populären Wahrnehmungsmuster der Ost-West-Spaltung und lädt damit implizit zu einer Historisierung von Anerkennungsdiskursen und Emotionsregimen vor wie nach 1989/90 ein. Das für einen historiographischen Beitrag etwas sperrig geschriebene fünfte und letzte Gutachten von Kerstin Brückweh, die leider als einzige Historikerin im Band vertreten ist, obwohl die historische Transformationsforschung deutlich mehr zu bieten hat, überzeugt durch seinen Zugriff, DDR- und Transformationsgeschichte miteinander zu verklammern. Ob man dabei allerdings erst in den 1980er Jahren oder (wie etwa bei Lühmann) gar schon früher (auch vor 1945) ansetzen sollte, wird je nach Fragestellung anders zu beantworten sein. Auch regionale und lokale Besonderheiten sollten stärker als bei Brückweh reflektiert und mit Blick auf die Reichweite der Erkenntnisse diskutiert werden.
Die von den Gutachten mitgelieferten Handlungsempfehlungen für die Zukunft ergeben sich häufig folgerichtig aus den jeweiligen Forschungskontexten und überraschen daher wenig. Sie beziehen sich zumeist auf eine stärkere Förderung von Bildungsangeboten und Forschung, wobei sich die Autorinnen und Autoren im Run um künftige Forschungsgelder sichtlich in Stellung bringen. Wie genau jedoch das von den Gutachterinnen und Gutachtern empfohlene "Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit" aussehen soll, für das seit März 2021 konzeptionelle Arbeiten laufen, bleibt weiterhin offen. Andere Forderungen wie die verstärkte Förderung von Citizen-Science-Projekten sollten zumindest um eine begleitende Evaluation ergänzt werden, denn wie nachhaltig solche partizipativen Formate jenseits ihrer politischen Symbolik sind, ist bislang offen. Weiterführend erscheinen überdies die Vorschläge Hidalgos und Yendells für eine Gestaltung praktischer Anerkennungsarbeit sowie das Plädoyer Lühmanns für einen ost-westdeutschen "Verantwortungsdiskurs" (326 f.).
Die sich vielfach ergänzenden, aber teils auch in Spannung stehenden Beiträge sind allesamt Inspirationsquellen für künftige historische Forschungen, befördern Diskussionen über den historischen Ort Ostdeutschlands und damit verknüpfte theoretische wie methodische Überlegungen. Mehr noch als dies im Buch selbst explizit gemacht wird, zeigen sie, wie eng Sozial- und Geschichtswissenschaften miteinander verflochten sein können oder sogar sollten. Das angestrebte Zukunftszentrum könnte hierbei eine wichtige Schnittstellenfunktion (auch als Datenarchiv) erfüllen. Für die künftige Erinnerungsarbeit wünscht man sich indes ein Mehr an Vielfalt, die nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert wird.
Christian Rau